„Irren ist menschlich“, besagt ein Sprichwort. Menschen handeln situativ, impulsiv und emotional. Sie treffen daher oft Entscheidungen, die zu Einbußen des eigenen oder des gesellschaftlichen Wohlstands führen. Wohlstandseinbußen sind laut Richard Thaler vermeidbar, wenn man es schafft, Menschen während ihrer Entscheidungsfindung dabei zu helfen, eine für sie gute Wahl zu treffen, ohne in den Entscheidungsprozess aktiv einzugreifen oder sie zu bevormunden.
Für Thaler liegt die Lösung in der Schaffung von passiven, aber stets präsenten Entscheidungsarchitekturen, die die Wahrscheinlichkeit von Fehlentscheidungen einschränken und somit Wohlstandseinbußen minimieren. Der libertäre Paternalismus und das damit verbundene „Nudging“, sind die Grundlage einer modernen Entscheidungstheorie, die sich von der klassischen Vorstellung eines rational handelnden Homo Oeconomicus lossagt und stattdessen auf angeborene und psychologische Verhaltensmuster abzielt.
Du bist mehr der visuelle Typ?
Weiter unten findest du eine Infografik, die dir diesen Artikel übersichtlich zusammenfasst!
Mein Professor der Nobelpreisträger
Als in der vergangenen Woche der diesjährige Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften bekannt gegeben wurde, bin ich sofort hellhörig geworden. Denn Richard Thaler ist nicht nur ein brillanter Kopf – ich durfte ihn auch während meines MBA Studiums an der Booth School of Business der University of Chicago live erleben. In den späten 2000er-Jahren hatte ich bei Prof. Thaler am Londoner Campus der University of Chicago eine Vorlesungsreihe über Behavioural Economics.
Ich war begeistert von ihm. Sein Buch „Nudge“ – damals die Pflichtlektüre im Kurs – hat bis heute einen Ehrenplatz in meiner Bibliothek. Und damit nicht genug: Denn seine Theorie lässt sich in der Conversion Optimierung perfekt anwenden. Und wie du das machen kannst, möchte ich dir heute erklären.
Der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschafter Professor Richard Thaler
Jede Entscheidung ist mit Geld verbunden. Ich kenne keine Entscheidung, die nicht mit Umsatz oder Kosten verbunden ist oder sich auf Umsatz oder Kosten bezieht. Immer dann, wenn Menschen entscheiden, wechselt Geld den Besitzer. Entweder verdienen wir Geld oder wir geben welches aus. Aus Sicht eines Webshop-Betreibers oder einer Webshop-Betreiberin ist es enorm wichtig zu wissen, wie menschliche Entscheidungen zustande kommen, wie UserInnen „ticken“ und was die Ursachen dafür sind, dass der User oder die Userin den Check-out abschließt oder eben vorher abspringt.
Behaviorismus: Der Homo Oeconomicus ist tot. Es lebe der Homo Sapiens
Zahllose Wirtschaftswissenschaftler machten sich darüber Gedanken, wie Entscheidungen getroffen werden und darüber, wie man sie „berechenbar“ machen kann. Sie erschufen einen rational handelnden Entscheidenden, den Homo Oeconomicus und bauten auf diesem Konstrukt zahlreiche Theorien und ökonomische Modelle auf, die zu optimalen Entscheidungsprozessen und Wohlstand führen sollten. Die Folgen „rationaler“ Entscheidungen, die der Homo Oeconomicus trifft, sind aber alles andere als das, was die Modelle prognostizierten. Zahllose Unternehmenspleiten, groteske Fehlentscheidungen von sogenannten Top-ManagerInnen, die massive Verbrennung von Steuergeldern, gesundheitsschädlicher Konsum von Alkohol und Tabakwaren, Bounce-Rates und Abbrüche im Check-out sind keine Indikatoren für gut durchdachte rationale Entscheidungen. Sie sind im Gegenteil eher ein Beleg dafür, dass wir wichtige Zusammenhänge nicht erkennen, nicht immer wissen, was unsere Entscheidung bringt, nicht wissen, was wir da tun, oder schlicht und ergreifend bei vollem Bewusstsein Mist bauen. Was ist der Grund dafür?
Unsere Richtungsentscheidungen sind selten rational
Die Antwort ist: Weil wir Homo Sapiens sind
Wir können das Konzept des Homo Oeconomicus mitsamt den darauf basierenden Modellen ad Acta legen. Dieses Modell erklärt nicht, warum unsere Website nicht konvertiert – und schon gar nicht, wie man sie gestalten sollte, damit sie gut konvertiert. Wir haben es mit einem irrational handelnden Homo Sapiens zu tun. Der Homo Sapiens handelt sprunghaft, unvorhersehbar, spontan, emotional, selten jedoch rational. Die „alten“ Entscheidungstheorien und ihre Modelle mussten durch „neue“ ersetzt werden. Schließlich wollen wir Online-Marketer wissen, wie der Homo Sapiens tickt und wie wir die Bounce-Rates und Abbruchraten der BesucherInnen auf unserer Website und im Check-out reduzieren können.
Kahnemann’s System 1 und System 2 oder: Wie entscheidet der Homo Sapiens?
Thaler stellt den „irrationalen“ Homo Sapiens ins Zentrum seiner Arbeit und referenziert auf die Studien von Daniel Kahnemann und Amon Tversky. Die Nobelpreisträger von 2002 zeigen auf, dass Menschen in zwei Systemen denken.
System 1 ist impulsiv, instinktiv, recht einfach gestrickt. Bei Problemstellungen betreibt es keinen besonders hohen mentalen Aufwand zur Lösungsfindung. Vielmehr bedient es sich angeborener, anerzogener oder antrainierten Reaktionssequenzen und Verhaltensnormen. Es liefert in der Regel immer eine Lösung, die aber keiner besonderen tiefgreifenden Prüfung auf Plausibilität, Logik und Genauigkeit unterzogen wird. Es ist zwar nicht besonders „schlau“, aber dafür verdammt schnell.
System 2 wird aktiviert, wenn wir komplexe, komplizierte oder unerwartete Fragestellungen analysieren müssen. Einmal aktiviert betreibt es einen immens hohen, energieintensiven mentalen Aufwand. Dieses System arbeitet sehr diszipliniert, sehr genau, ist sehr kritisch, hinterfragt sich und die Ergebnisse seiner Arbeit, greift bei der Problemlösung auf entlegenste Erinnerungen und Erfahrungen zurück, prüft diese nochmals auf Plausibilität, Logik und Genauigkeit und ist auch bereit aufzugeben. Es ist sehr „schlau“, aber dafür sehr träge, faul und zudem noch langsam.
Im alltäglichen Leben und den gängigen Situationen (z. B. sich anzuziehen, denselben Weg mit dem Auto zur Arbeit zu fahren, für das Wochenende einzukaufen) sind wir mit System 1 unterwegs. Selten schalten wir auf System 2 um. In einem Zustand, in dem das System 1 unser Navigator ist, ist der Homo Sapiens weit davon entfernt, streng logisch, absolut rational und präzise plausibel zu handeln und zu entscheiden.
Alltägliche Routinen wie Autofahren werden vorwiegend durch System 1 gesteuert
System 1 schirmt das mental anspruchsvolle System 2 vom intensiven Nachdenken und dem Abwägen komplexer und komplizierter Sachverhalte ab. Der Mensch führt dank System 1 ein relativ entspanntes und stressfreies Leben und die meisten verlassen sich darauf, dass das System die richtige Entscheidung liefert. Unser großes Vertrauen in System 1 ist der Grund dafür, warum es Unternehmenspleiten, das Schwarzbuch des Bundes der Steuerzahler, Leberzirrhosen, Bounce-Rates, Absprungraten und Check-out-Abbrüche gibt.
Der libertäre Paternalismus
Thaler macht aus dieser Not eine Tugend. Wenn Menschen überwiegend mit System 1 arbeiten und genau bekannt ist, an welchen Stellen im menschlichen Entscheidungsprozess das System 1 versagt, dann sollte man nicht versuchen, den Menschen zu verbiegen. Man sollte lieber alles daran setzen, System 1 so zu führen, dass es die Fallen, in die es immer wieder tappt, geschickt umschifft – und ihm dabei helfen, eine gute Entscheidung zu treffen. Hier setzt Thaler an und führt den Begriff von Entscheidungsarchitekturen ein, die die Schwächen von System 1 abfedern sollen. Er will den Menschen – eben wegen der Dominanz von System 1 – dabei helfen, eine Wahl treffen zu können, die ihren Wohlstand erhöht und nicht mindert.
Eine Entscheidungsarchitektur ist eine Aneinanderreihung von Wahlmöglichkeiten bzw. Optionen, die einem Menschen im Prozess seiner Entscheidungsfindung zur Verfügung gestellt werden. Die Reihenfolge und die Verfügbarkeit der Wahlmöglichkeiten sind so konstruiert, dass gerade Menschen, die überfordert sind oder irrational handeln, von diesem Prozess wie von einem unsichtbaren Begleiter zum Ziel geführt werden, ohne dass sie eine aktive Einmischung durch eine dritte Person von außen oder eine Bevormundung verspüren. Ein gutes Beispiel ist das Abheben von Bargeld an einem Geldautomaten: Wenn zuerst das Geld und dann die Karte herausgegeben werden, werden viele KundInnen ihre Karte vergessen, weil für sie die Interaktion mit dem Automaten nach Erhalt des Geldes als abgeschlossen gilt. Wird aber die Entscheidungsarchitektur verändert und die Herausgabe des Geldes an die Bedingung gekoppelt, dass zunächst die Karte entnommen wird, so wird niemand mehr seine Karten stecken lassen.
Man vergisst eher die Karte als das Bargeld – Deshalb: Karte zuerst
Diese Entscheidungsarchitekturen sind ein Ableger des libertären Paternalismus und des „Nudging“ (zu Deutsch „Stupsen“). Thaler will nicht die Wahlfreiheit der Menschen infrage stellen und diese auch nicht einschränken. Libertärer Paternalismus bedeutet, dass die Architekten von Entscheidungsprozessen diese so gestalten sollen, dass es mit wenigen intuitiven Entscheidungen dem Nutzer oder der Nutzerin ermöglicht sein soll, eine Entscheidung zu treffen, die er bzw. sie treffen wollte. Er will die Menschen also in eine gewisse Richtung führen, aber am Ende ihnen selbst die Entscheidung überlassen.
Wir wissen heute aus der Verhaltensökonomie, dass Menschen – wie oben gesagt – sich in Wirklichkeit eben anders verhalten als der Homo Oeconomicus im klassischen Modell. Menschen haben Gefühle, sie sind beeinflussbar, sie laufen in der Masse mit, sie sind manchmal träge. Dieses Wissen um die menschliche Psyche ist von elementarer Wichtigkeit, wenn du das Verhalten der NutzerInnen auf deiner Website verstehen und mitgestalten möchtest. Eine Website ist nichts anderes als eine komplexe Entscheidungsarchitektur, auf der du dem User bzw. der Userin zu jedem Zeitpunkt eine bestimmte Auswahl und Anordnung von Handlungsoptionen zur Verfügung stellst. Der Mensch interagiert mit der Website ähnlich wie der Kunde bzw. die Kundin mit dem Geldautomaten. Die Kenntnis über Verhaltensmuster von Menschen gibt dir die Möglichkeit, eine für deine Zielgruppe passende Entscheidungsarchitektur zu schaffen und sie in die Lage zu versetzen, stressfrei und frei von Fehlentscheidungen (Absprungraten) zum Ziel zu kommen.
Nudge in der Conversion-Rate-Optimierung
Auf Websites haben wir mit dem Wissen um kognitive und behaviorale Entscheidungsprozesse des Systems 1 die Möglichkeit, unsere NutzerInnen in die passende Entscheidungsarchitektur zu befördern und sie darin in die richtige Richtung zu „stupsen“. Unsere Aufgabe als ArchitektInnen und DesignerInnen von Entscheidungsarchitekturen ist es dabei, eine Website zu schaffen, die es eben schafft, die Stolperfallen, in die der Mensch „dank“ seines Systems 1 immer wieder reintappt, zu entfernen. Wenn wir den bekannten Reflexen begegnen und uns die Impulsivität des Besuchers zunutze machen, senken wir Bounce-Rates und Absprungraten.
Wir können unsere Nutzer in die richtige Richtung “stubsen”
Durch die Personalisierung, die im Netz mittlerweile möglich ist, tun sich hier natürlich ganz neue Chancen für AnbieterInnen auf. Denn sie können immer dezidierter auf ihre Nutzer und Nutzerinnen eingehen. Nicht so sehr, wie es von Angesicht zu Angesicht im Ladengeschäft möglich ist, aber doch zu einem immer größeren Grad.
Aber ist diese Art der Manipulation nicht falsch?
Nun, am Ende ist jede Form des Paternalismus eine Art „subversive“ Bevormundung. Doch Thaler besteht darauf, dass zum einen die Freiwilligkeit gewahrt bleibt und zum anderen die Stupser den Menschen nur in eine Richtung bringen sollen, die auch gut für ihn ist. Thaler war lange als Berater von Regierungen aktiv, wo er diese Voraussetzungen immer ins Zentrum seiner Überlegungen gestellt hat.
Aber fraglos bietet jedes System, egal, wie gut es gemeint ist, viele Möglichkeiten des Missbrauchs. Das gilt für politische Strömungen genauso wie für ökonomische Denkschulen. Auch das Nudging ist davor nicht gefeit. Denn wer definiert denn, was das Gemeinwohl ist – bzw. was für den Einzelnen gut ist? Gerade dann, wenn Regierungen Nudging im großen Stil einsetzen, muss die Gesellschaft vorsichtig sein – denn nicht immer wird es dabei um Dinge gehen, die wirklich positiv für die Mehrheit der Bürger sind.
Der Grad zwischen Steuerung und Nudging ist schmal
Aber in der seriösen Conversion Optimierung werden die zentralen Leitplanken aus Thalers System eingehalten. Denn die Freiwilligkeit besteht allein deshalb, weil die NutzerInnen nicht dazu gezwungen wurden, auf eine Website zu kommen. Vielmehr sind sie dort, weil sie ein Problem lösen möchten. Mit einem Stupser in die richtige Richtung können wir nun dafür sorgen, dass sie uns mit der Lösung des Problems beauftragen – egal, ob das Problem eine Dienstleistung erfordert oder ob der Nutzer der die Nutzerin nur Schuhe kaufen wollte.
Und im Endeffekt ist auch die Google-Suche nichts anderes: Wir klicken auf das erste Ergebnis, weil die Suchmaschine uns sagt, dass dies das beste Ergebnis für uns ist. Das lässt sich zwar durch Negative SEO beeinflussen, ist aber grundsätzlich eine wirklich hilfreiche Sache, die wir im Alltag nicht missen möchten.
Ein Beispiel für Nudge in der Conversion Optimierung
Eine schöne Idee, wie man UserInnen auf einer Website „nudgen“ kann, gibt folgendes Beispiel wieder. Ein Juwelier betreibt einen Online-Shop und verkauft über seine Website Uhren, Ringe, Halsketten und Ohrringe. Die Navigation ist entsprechend aufgebaut und daher erscheinen in der Menüleiste Uhren, Ringe, Halsketten und Ohrringe. Sein Ziel ist es, den Besucher oder de Besucherin möglichst schnell mit einem Produkt zu identifizieren, damit er oder sie dieses in den Warenkorb legt und in den Check-out geht.
Wenn jemand sich auf eine Juwelierseite begibt, dann befindet sich derjenige in einer bestimmten Situation, die uns aber nicht bekannt ist. Mit Uhren, Ringen, Halsketten und Ohrringen wird dem User bzw. der Userin ein Bauchladen eröffnet, aus dem er sich was aussuchen kann. Der Kunde oder die Kundin muss abwägen, ob der Ausweg aus seiner bzw. ihrer Situation mit einer Uhr, einem Ring, einer Halskette oder doch den Ohrringen zu lösen ist. Er oder sie ist mit der Entscheidungsfindung überfordert und muss jetzt System 2 anwerfen. Es dauert keine 10 Sekunden, bis er bzw. sie abspringt oder zumindest gestresst ist.
Die Lösung durch Nudge: die Einführung eines Menüs mit einer situativen Navigation anstelle der funktionalen Navigation. Diese listet die gängigsten Anlässe auf, für die man Schmuck kaufen würde. Z. B:
Erstes Date – Verlobung – Hochzeit – Freude machen – Verzeihung – Neuigkeiten & Trends
Schmuckkäufe sind situationsabhängig – manche Menschen brauchen dabei Unterstützung (Nudges)
So schicken wir KundInnen in eine Entscheidungsarchitektur, die sich ausschließlich an seiner bzw. ihrer Situation orientiert und nicht an der Funktionalität des Produktes. Der Kunde oder die Kundin findet seine bzw. ihre persönliche Lage wieder und schließt daraus, dass er oder sie hier auch die Lösung finden wird. Wir entbinden den oder die KundIn von der Entscheidung: „Welches Produkt passt am besten zum ersten Date?“ und „stupsen“ ihn in den Funnel, indem wir ihm bzw. ihr eine Wahloption zur Verfügung stellen, mit der er oder sie sich identifizieren kann. Dadurch reduzieren wir die Komplexität der Entscheidungsfindung, die letztendlich darüber entscheidet, ob der Kunde bzw. die Kundin in den Funnel geht oder nicht.
Daraus folgt: System 2 muss nicht angeworfen werden und der Kunde oder die Kundin surft mit System 1 weiter.
Verhalten: Der bzw. die UserIn (will sich z. B. verloben, heiraten, ein Geschenk machen oder sich informieren) findet seine Situation sofort im Menü wieder und geht direkt in die Produktübersicht.
Fazit: Formeln lösen keine Probleme
Das Denkmuster von Richard Thaler zeigt uns vor allem eins: Formeln lösen keine Probleme. Der Homo Oeconomicus ist eine Fabelgestalt, die sich nicht mit der überwältigenden Mehrheit der Menschen deckt. Vielmehr sind Menschen immer wieder irrational und müssen dementsprechend angesprochen werden.
In der Conversion Optimierung brauchen wir daher, wenn wir dieses psychologische Wissen haben, nicht mehr so viel testen wie früher. Vielmehr können wir Personas erstellen und auf deren Basis Websites bauen, die unsere Zielgruppe in die richtige Richtung lenken. Dann hängt es von der Qualität des Angebots ab, ob sie auch wirklich konvertieren werden.