Gibt es einen freien Willen oder war die Entscheidung, auf diesen Artikel zu klicken, unumgänglich?
Die Frage nach der Willensfreiheit ist eine der essenziellsten und existenziellsten Fragen der Menschheit. In ihr begründet liegt die Suche nach dem Wesen des Menschen, nach der Art, wie wir leben und nach der Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt und anderen Lebewesen.
Der freie Wille im Online-Marketing
Doch der freie Wille ist nicht nur eine komplexe Thematik der Philosophie und Naturwissenschaft, sondern hält dank seiner Reichweite Einzug in alle Aspekte des Lebens, wie auch in die Entscheidungsarchitektur der Menschen und somit in die Optimierung von E-Commerce- und Business-Websites.
Wir haben bereits beschrieben, wie Entscheidungen zustande kommen und wie man sie beeinflussen kann. Das Ziel dieses Textes ist es jedoch, die fundamentale Frage der Entscheidung an sich zu entschlüsseln.
Schon kleine Entscheidungen basieren auf komplexen Abläufen
Woher kommt der Ursprung einer Entscheidung?
Eine Website kann den verständlichsten Aufbau und ein ästhetisch ansprechendes Design haben. Doch wenn die grundlegendsten Bausteine der Entscheidungs- und Handlungsstrukturen des Menschen nicht verstanden wurden, ist sie nutzlos oder sogar umsatzhemmend.
Wir werden in diesem Artikel der Frage auf den Grund gehen, wie die Erkenntnisse aus einem schlichten Experiment tiefgreifenden Einfluss auf die Gestaltung einer Seite haben können und wie man davon nachhaltig profitieren kann. Um diese Aussagen umfassend zu verstehen, werden wir uns zunächst mit dem erwähnten psychologischen Experiment näher beschäftigen und einige Grundlagen des menschlichen Gehirns klären.
Das Experiment
Der amerikanische Neuropsychologe Benjamin Libet (1916-2007) war von der Existenz der Willensfreiheit überzeugt und suchte nun nach Methoden, diese experimentell nachzuweisen.
Hierfür untersuchte er die zeitliche Abfolge von drei verschiedenen Ereignissen:
1. dem Auftreten sogenannter Bereitschaftspotenziale im Gehirn,
2. dem Bewusstwerden eines Willensaktes, also einer Entscheidung, und
3. dem Beginn der motorischen und willentlich beschlossenen Handlung.
Die ProbandInnen des Experiments waren angehalten, eine einfache Handbewegung auszuführen. Dabei blickten sie auf ein rotierendes Ziffernblatt. Sie wurden gebeten, sich die Ziffer zu merken, bei der sie den „Drang“ verspürten, die Handlung auszuführen. Dieser „Drang“ wurde als bewusste Entscheidung der Handlung interpretiert – also Ereignis 2.
Das Bereitschaftspotenzial – das elektrische Potenzial von Nervenzellen – hat eine handlungsaktivierende Funktion. Diese kann mittels eines Elektroenzephalogramms (EEG) gemessen werden. Somit konnte der Zeitpunkt der Willensentscheidung auf neuronaler Ebene – Ereignis 1 – bestimmt werden.
Der Beginn der Muskelaktivität bei der Handbewegung – Ereignis 3 – wurde mittels eines Elektromyogramms (EMG) gemessen. Von Interesse war nun die zeitliche Abfolge der drei Komponenten.
Die Ergebnisse waren höchst überraschend. Es wurde deutlich, dass die motorische Aktivität zwar wie vorausgesehen nach den anderen beiden Abschnitten begann. Jedoch konnte das Bereitschaftspotenzial vor dem bewussten Empfinden der Willensentscheidung datiert werden.
Zeitlicher Ablauf der Ereignisse
Was bedeuteten diese Ergebnisse nun für die Frage nach dem freien Willen des Menschen?
Es lässt sich schlussfolgern, dass unsere Handlungen schon vor unserem bewussten Entschluss, diese auszuführen, von unserem Gehirn festgelegt werden. Dies bedeutet, dass bei der willentlichen Ausführung von Handlungen neuronale Bereitschaftspotenziale dem Empfinden des freien Entscheidens vorausgehen. Dies legt für Neurobiologen die Vermutung nahe, dass das Prinzip der Willensfreiheit des Menschen nicht mehr aufrechterhalten werden kann und überdacht werden muss.
Man könnte darüber hinaus ableiten, dass alle individuellen Impulse nicht wirklich „individuell“ – d. h. von dem jeweiligen Menschen selbst gesteuert – sind.
Hat das Gehirn uns bei dem Sprint um die Entscheidungsmacht überholt und steuert so unser gesamtes Tun und Denken?
Den Ergebnissen des beschriebenen Experiments lässt sich entnehmen, dass die unterbewusst ablaufenden Prozesse unseres Gehirns von entscheidender Wichtigkeit bei der Vorbereitung und Ausführung einer Handlung sind.
Dieser Ansatz birgt großes Potenzial und viele innovative Möglichkeiten im Bereich der Conversion Optimierung. Die inhaltliche und strukturelle Ausrichtung von Websites oder Produkten kann somit neu gedacht werden.
Erkenntnisse aus Experimenten lassen sich bei der Websitegestaltung und CRO gut einbringen
Doch bevor diese Überlegungen in die Realität umgesetzt werden können, muss zunächst die Rolle des Gehirns an sich geklärt werden. Dabei stellt sich die Frage, welche Konsequenzen es hätte, in einer Welt zu leben, in der unser Gehirn die Entscheidungen für uns trifft.
Das Gehirn
Das Gehirn ist eines der komplexesten Strukturen, die wir kennen. Millionen von Nerven- und Gliazellen sowie Billionen von Synapsen sorgen dafür, dass wir uns fortbewegen, atmen, denken und agieren. Unser Gehirn unterliegt jedoch wie alles auf dieser Erde gewissen Naturgesetzen. So können wir zum Beispiel einen bestimmten Geruch mit angenehmen Gefühlen verbinden, ohne dies zu wollen.
Dies könnte durch eine frühkindliche Konditionierung hinsichtlich der Empfindung dieses Geruchs hervorgerufen worden sein. Wir können uns diesen Eingebungen ebenso wenig entziehen, wie wir den Einfluss unserer Gene verändern können. Zudem ist der Mensch dank der Summe seiner Erfahrungen an gegebene Umstände angepasst, sodass diese meist augenblicklich und effektiv bewältigt werden können.
Worauf basiert nun dieses Phänomen?
Hier kommen wieder bestimmte Hirnareale ins Spiel. Die Verkettung von Amygdala und Hippocampus hat zur Folge, dass diese Teile des emotionalen Erfahrungsgedächtnisses unser Verhalten maßgeblich beeinflussen. Und dies tun sie sowohl bei der Entstehung von Wünschen und Absichten als auch bei der Entscheidung zu deren Durchführung.
Mit diesem Prozess wird sichergestellt, dass ein Mensch nicht unbedingt zweimal denselben Fehler macht, sondern eine Situation mit anderen vergleichen und dann seine Alternativen abwägen kann. Doch all dies geschieht größtenteils unbewusst.
Hier sitzen die einzelnen Teile des Gehirns
Auch in Libets Experiment wirkte dieses unbewusste System am Aktivierungsprozess mit. Man erkannte, dass der Cortex (die Großhirnrinde bzw. die Areale, die bei einer bewussten Handlungsplanung aktiv sind) allein keine Bewegungsauslösung initiieren kann. Es wird also deutlich, dass der Mensch von den unbewussten Abläufen innerhalb seines Gehirns abhängig ist.
Die weiteren Implikationen, welche aus diesen Schlüssen entstanden, können weitreichende Konsequenzen für die Conversion Optimierung mit sich bringen.
Der Kuchen
Zur Erläuterung möchte ich auf ein kleines Beispiel zurückgreifen. Vor mir auf dem Tisch steht eine verführerisch aussehende Schwarzwälder Kirschtorte. Diese löst in mir den Wunsch aus, ein Stück davon zu essen. Ich strecke die Hand danach aus und nehme mir ein Kuchenstück. Ich spieße es auf und führe es zum Mund. Ich esse den Kuchen. Wenn man mich jetzt fragen würde, weshalb ich das Stück Kuchen genommen habe und nun esse, wäre meine Antwort: „Weil ich Lust darauf hatte.“
Da kann man schonmal Lust bekommen
Es stellen sich nun jedoch einige Fragen, die auch hinsichtlich der Gestaltung einer Website von Interesse sind:
Ich habe den Kuchen gesehen und mir wurde bewusst, dass ich ihn gerne essen würde. In meinem Gehirn wurden die Areale angesprochen, die mir vermitteln, wie gerne ich Kuchen esse und dass dies ein positives Geschmackserlebnis mit einer einhergehenden Stimmungsaufhellung zur Folge haben kann. Der Anblick, der Geruch oder auch andere Eindrücke des Kuchens müssen wohl die Auslöser für dieses Verlangen gewesen sein.
Aber ist mein mentales Ereignis des „Kuchenessen-Wollens“ identisch mit oder reduzierbar auf das physikalische Ereignis des Erblickens der Torte? Oder um zum E-Commerce zurückzukehren, kann der Abschluss eines Kaufs primär auf das Sehen einer bestimmten Farbe, eines Bildes o. Ä. zurückgehen?
Nach diesem Prinzip wäre Verhalten eine einfache Gleichung, abgeleitet aus einem simplen Experiment: Ich sehe den Kuchen, mir wird bewusst, dass ich den Kuchen essen will und ich esse den Kuchen. Oder: Ich sehe ein Bild, das mich anspricht, ich finde es schön und kaufe das dazugehörige Produkt.
Ursache = Wirkung?
Wenn nun der Mensch absolut determiniert ist, dann führt eine Ursache zwangsläufig zu einer Wirkung. Das Erblicken des Kuchens lässt bei meiner Person also keine andere Möglichkeit zu, als dass ich ihn esse. Folgt man dieser Theorie, gibt es keinen Platz für eine freie Entscheidung. Die Situation ist so gegeben, dass ich keine Möglichkeit habe, mich anders zu verhalten. Hiernach bin ich den Umständen ausgeliefert und von ihnen abhängig.
Dies hätte dramatische Folgen in Bezug auf jede Art von Verkauf und würde bedeuten, dass der richtige (unbewusste) Trigger für eine Person unweigerlich zum Kauf führen würde.
In der Theorie würde jeder Trigger zu einer Kaufentscheidung führen
Dies steht im starken Kontrast zu dem einst weit verbreiteten Konzept, das den Menschen als vollkommen rationales Wesen definierte. Dieses Konzept veranschaulichte die Idee des menschlichen Handelns nach bewussten und nützlichen Regeln, deren Anwender der Homo Oeconomicus war.
Die Prämisse hierbei war, dass ein Mensch zu uneingeschränktem rationalen Handeln in der Lage und somit den Einflüssen von Gefühlen, Vorlieben oder Moden nicht länger unterworfen ist. Dieser Mensch traf eine durchdachte, bewusste Entscheidung auf Grundlage seines Überblicks und Wissens hinsichtlich der Alternativen, um so seinen Nutzen zu maximieren.
Vergleicht man diese Vorstellungen des „rationalen Menschen“ mit den oben beschriebenen Implikationen des Libet’schen Experiments, so wird deutlich, dass diese nicht haltbar sind.
Hier war gerade in Bezug auf die Conversion Optimierung für E-Commerce ein Umdenken notwendig: weg von der Prämisse eines vollkommen rationalen Menschen, hin zu Überlegungen hinsichtlich der unterbewusst ablaufenden Prozesse. Ganz nach dem Motto: „Homo Oeconomicus ist tot, es lebe Homo Subconscientiae!“
Der rationale Mensch existiert nicht
Aus der Erkenntnis, dass eine Betrachtung der NutzerInnen als rein rational ungenügend ist, erwächst heute somit ein gänzlich neues Verständnis optimaler Grundkonstruktionen von Websites.
Hierbei muss das Wissen über die im Unterbewusstsein stattfindenden psychologischen Prozesse genutzt werden, welche die Entscheidungen maßgeblich steuern.
Die „unterbewusste Conversion“
Es wurde nun deutlich, dass ein Wissen über die unterbewusst ablaufenden psychologischen Prozesse von großem Vorteil sein wird.
Doch was bedeuten die oben beschriebenen Erkenntnisse nun konkret für die Optimierung einer Seite?
Es ist bekannt, dass man das Nutzerverhalten potenziell so modellieren kann, dass bestimmte Verhaltensweisen getriggert werden.
Eine Erleichterung der bewussten und somit ebenfalls kognitiv anstrengenden Prozesse kann z. B. mithilfe eines „Nudge“ erzielt werden. Dabei nimmt man den NutzerInnen bewusste, rationale Arbeit ab, indem man ein Design mithilfe von leicht zugänglichen Triggern konzipiert.
Ein simples Beispiel hierfür sind Default-Einstellungen, die dem Nutzer bzw. der Nutzerin unterbewusst vermitteln, dass die Voreinstellung die beste Variante sei.
Ein weiterer unmittelbarer und meist unbewusster Trigger ist Farbe. Diese wirkt augenblicklich und universell. So haben mehrere Studien gezeigt, dass z. B. die Farbe Blau die wahrgenommene Qualität und Vertrauenswürdigkeit eines Unternehmens erhöht (siehe Yüksel, 2009; Lee and Rao, 2010; Alberts and van der Geest, 2011; Labrecque and Milne, 2012; Ridgway and Myers, 2014 (cf. Barli et al., 2006; Chebat and Morrin, 2007).
Löst die Farbe blau auch bei dir Vertrauen aus?
Im Hinblick auf eine emotionale Design-Konzeption und somit einen wiederum größtenteils unbewusst ablaufenden Prozess muss besonders auf die Wahl der Zielgruppe geachtet werden. Dies eröffnet das breite Feld der Zielgruppen-Analyse, welche mithilfe von psychologischen Typenmodellen wie den Limbic Types erarbeitet werden kann.
Hat man eine potenzielle Zielgruppe ausfindig gemacht, können unterschiedliche Designs mittels A/B-Tests geprüft und analysiert werden. Auf der Suche nach dem optimalen unterbewussten Trigger sind A/B-Tests aufgrund der Bandbreite ihres Informationsgehalts unerlässlich. Aus den gesammelten Daten können jene Elemente extrahiert werden, die besonders gut performen und somit das Unterbewusstsein der KundInnen optimal ansprechen.
Hierzu gehören die Wahl des Designs allgemein, aber auch spezifische Komponenten wie die oben erwähnte Farbwahl oder die Inhalte eines Heroshots.
Hat man die Elemente gefunden, die das Unterbewusstsein der KundInnen ansprechen und zu gewünschten Ergebnissen führen, kann dieses Wissen nachhaltig eine Steigerung der Conversion mit sich bringen und somit als „Blue Print“ für weitere Designs und Projekte dienen.
Diese Techniken und das dahinterliegende Wissen werden von uns genutzt und erforscht, um ein komplexes und vielschichtiges Bild der Nutzerentscheidungen gewährleisten zu können. Hierbei werden neue Wege der Conversion Optimierung gefunden, um immer facettenreichere und genauere Aussagen über das Verhalten von Menschen treffen zu können. Somit kommen wir Schritt für Schritt der Mehrdimensionalität des menschlichen Erlebens und Verhaltens auf die Spur, ohne dabei den Blick für das Wesentliche, nämlich die Conversion selbst, zu verlieren.