Hallo, Susanne und willkommen bei LEAP/. Ich kann mir vorstellen, dass ihr mit eurer Art der journalistischen Arbeit auch Zielgruppen erreicht, die für ähnliche Themen niemals eine Zeitung aufschlagen würden. Wie sieht denn eure Zielgruppe in etwa aus?
Dazu muss ich sagen, dass wir kein Medienunternehmen sind, sondern eine Produktionsfirma. Das heißt, wir produzieren Videos für Auftraggeber, das sind beispielsweise Blick (aus der Schweiz) oder der WDR. Wir publizieren aber nur wenig selbst. Aber klar: VR und 360°-Videos kann man unter anderem auch über Spielekonsolen wie die Playstation VR bzw. über Plattformen wie Steam VR konsumieren.
Man kann hier also Menschen auffallen, die mit klassischen Medien schwer erreichbar sind. Gleichzeitig haben wir auch älteren Menschen VR-Brillen aufgesetzt, die Technik gegenüber vielleicht eher zögerlich sind. Aber wenn sie erstmal in dieser anderen Welt waren, in die man die Menschen mit diesen Experiences schickt, waren dieses Ding auf der Nase und der Controller in der Hand vergessen, es geht um das Erlebnis.
Darüber hinaus kann man 360°-Videos ja auch über Computer oder Handy erleben und so eine hohe Reichweite schaffen, über die Möglichkeiten eines VR-Kinos hinaus. Wichtig für eine erfolgreiche Experience, die sich verbreitet, ist am Ende nicht die Technik, sondern der Content.
Gerade für NGOs tun sich hier ja auch ganz neue Möglichkeiten auf, ihre Anliegen den Menschen erlebbar zu machen. Was waren in diesem Bereich bisher spannende Cases oder wie denkst du, wird sich VR hier in Zukunft einsetzen lassen?
Wir haben beispielsweise ein Projekt mit Brot für die Welt über die Afar in Äthiopien umgesetzt. Deren Situation hat sich aufgrund des Klimawandels verschlechtert: In den warmen Monaten wird es heißer als früher (über 50 °C), es regnet seltener und unregelmäßiger und wenn, dann sind es Stürme, die das Leben der Menschen und Tiere gefährden. „Brot für die Welt“ unterstützt eine Partnerorganisation, die beispielsweise ein Wehr gebaut hat und den Menschen beibringt, wie man Pflanzen anpflanzt und versorgt.
Wir haben die Situation und das Projekt in einem 360°-Video visualisiert. Brot für die Welt nutzt es, um einerseits Spendern zu zeigen, was mit ihrem Geld passiert. Es wird Spendern zwar auch angeboten, selbst in die Projektregionen zu fliegen, allerdings machen viele Spender das nicht, weil es zu anstrengend ist oder weil sie es falsch finden, diesen Aufwand (Geld, Kohlendioxid beim Flug usw.) dafür zu betreiben. Da ist es also eine gute Alternative, die Projektregion zu den Spendern zu bringen, statt umgekehrt.
Andererseits will Brot für die Welt auf diese Art auch neue Spenden akquirieren. Und wir haben schon von den Projektverantwortlichen gehört, dass die Reaktionen sehr positiv sind. Potentielle Spender sind nach dem Schauen des Videos sehr interessiert und reden über das Projekt mehr, als das sonst der Fall ist.
Ansonsten gibt es einige Projekte von NGOs. Die UN hat sehr früh damit angefangen. Sehr eindrucksvoll ist immer noch der Film „Clouds over Sidra“ von 2015.
Ich kann mir vorstellen, dass ihr damit sehr viel Eindruck schindet. Nun springen auch immer mehr Unternehmen auf das Thema auf. Welche Einsatzgebiete fallen dir hier ein? Gerade für B2B-Fälle würde mich das interessieren.
Für Unternehmen ganz allgemein gibt es verschiedene Möglichkeiten. Beispielsweise gibt es jetzt schon Projekte, bei denen Unternehmen ihren zukünftigen Mitarbeitern ihren Arbeitsplatz zeigen. Oder man kann beispielsweise in Virtuellen Räumen (gibt es ja bereits, beispielsweise Alt Space VR oder VR Spaces von Facebook) zusammen an einem Projekt arbeiten oder Teachings machen, Mitarbeiter einarbeiten oder weiterbilden.
Im Bereich Augmented Reality wird daran gearbeitet, Mitarbeiter beim Zusammenbau von Maschinen zu unterstützen, indem ihnen die richtige Position als Overlay angezeigt wird, wie eine Bauanleitung, die man am realen Objekt direkt vor Augen hat.
Im B2C Bereich wiederum kann man Kunden zeigen, wo ihre Produkte herkommen. Beispielsweise haben wir ein Projekt umgesetzt, in dem man sich in der Manufaktur eines Luxusuhrenherstellers umsehen kann. Die sitzen in Glashütte, einem kleinen Ort in Sachsen, verkaufen ihre Uhren aber unter anderem in Shanghai. So können sie den Kunden in Asien oder Amerika trotzdem zeigen, wo ihre Uhr herkommt. Was ja viele Unternehmen wollen, ist, Emotionen mit ihrer Marke zu verbinden – und weil VR ein emotionales Medium ist, lässt sich das damit sehr gut realisieren.
Gerade diese emotionale Komponente ist sicher einer der größten Vorteile des Mediums. Was sind deine Rezepte, um diese stimmig unterzubringen? Weil man kann ja sicher auch viel falsch machen – und dann wirkt es platt oder aufgesetzt.
Da das Medium an sich schon gut Emotionen vermittelt, muss man eher darauf achten, dass man nicht übertreibt, man muss mit der Emotionskeule nicht noch zusätzlich draufhauen.
Prinzipiell ist es für eine gute VR Experience wichtig, dass man eine gute Geschichte hat. Zu Anfang der Entwicklung von VR hatten viele die Kameras in der Hand und haben gesagt: „Tolles neues Medium, tolle neue Technik – wir müssen damit jetzt irgendwas machen.“ Der Ansatz sollte aber genau andersherum sein: Man braucht eine gute Geschichte (egal ob im Journalismus oder anderen Bereichen) und sollte sich dann überlegen, mit welchem Medium man sie gut erzählt. Man kann nicht allein auf den Wow-Effekt setzen, der entsteht, wenn jemand sich zum ersten Mal eine VR-Brille aufsetzt, das flacht schnell ab. Man braucht also eine gute inhaltliche Erzählung, die diese Emotionen weiterträgt.
Auch wenn das Medium an sich emotional ist, kann eine Experience ohne eine gute Geschichte trotzdem sehr langweilig sein, können die Räume sehr leer wirken. Deshalb ist es extrem wichtig, wen man vor die Kamera stellt. Unserer Erfahrung nach funktionieren die Geschichten am besten, in denen man einem Protagonisten nahe kommt.
Aktuell sind viele Protagonisten ja sicher noch unbekannte oder jüngere Vertreter? Meinst du, dass auch bekannte Schauspieler und andere große Namen mit der Zeit für VR zu begeistern sein werden?
In Potsdam wurde gerade ein volumetrisches Studio eröffnet. Damit kann man Menschen aus allen Perspektiven mit Kameras gleichzeitig aufnehmen. Das macht es später möglich, dass man sie in Virtuelle Räume versetzen kann. Emilia Schüle (hat bspw. bei der Serie Charité mitgespielt) hat das ausprobiert und fand es sehr spannend. Wir selbst haben auch schon mit Udo Schenk gearbeitet bei dem Projekt „Was wollten Sie in Berlin?!“. Da wird man in die Rolle eines Gefangenen der Stasi versetzt, Udo Schenk spielt einen der Beamten, der den User befragt.
In ähnlicher Form gibt es so etwas auch schon bei Computerspielen. In „Beyond Two Souls“ spielen Ellen Page und Willem Dafoe alle Szenen und ihre Bewegungen werden mit Hilfe von Software in die Spielewelt übertragen. Das zeigt, dass solche Projekte spannend sind für Schauspieler – aber auch eine Herausforderung, weil es sich vom normalen Spiel mit der Kamera vollkommen unterscheidet. Es gibt ja keine einzelnen Einstellungen mehr, sondern der User kann potenziell den ganzen Körper sehen, die Handhaltung, die Positionierung des Fußes, alles kann in sein Blickfeld geraten und bedeutsam sein. Man muss mehr mit dem gesamten Körper spielen, den Raum einnehmen. Da sind Theaterschauspieler näher dran als Filmschauspieler.
Das ist tatsächlich eine ganz schöne Herausforderung. Wir haben jetzt viel über die Chancen der VR gesprochen. Aber wo siehst du potentielle Einschränkungen – was die Technik selbst oder ihre Verbreitung angeht?
Im Moment stehen wir noch sehr am Anfang. Die VR-Brillen sind noch relativ groß und solche, mit denen man sich in Virtual Reality bewegen kann, brauchen einen leistungsstarken Computer, an dem man dann via Kabel hängt. Gerade VR ist – im Vergleich zu 360°-Videos, die man auch über Computer oder Handy schauen kann – deshalb noch nicht so weit verbreitet. Aber das wird sich entwickeln – wenn man überlegt, wie die ersten Computer, die ersten Mobiltelefone ausgesehen haben, kann man erahnen, was im VR-Bereich in einigen Jahren möglich sein wird. Wir glauben, dass es wichtig ist, wenn man schon jetzt Erfahrungen damit sammelt, lernt, was eine gute Experience ausmacht, auch wenn wir noch in einer frühen Phase sind.
Es kann sicher nicht schaden, zu den Early Adoptern zu gehören. Was sind denn für dich Dinge, bei denen man bei VR vorsichtig sein muss? Also ethische oder moralische Fallstricke, wo man vor allem Jugendliche aufklären muss.
Im Moment werden erste Studien durchgeführt, die zeigen sollen, ob und wie VR sich auswirkt. Ich bin gespannt auf die Ergebnisse, weil das natürlich dabei hilft, gute Experiences zu entwickeln. Natürlich muss man aufpassen, dass man Menschen nicht überfordert.
Mir persönlich hilft dabei auch, dass ich mich in meiner Ausbildung (an der Deutschen Journalistenschule und an der Ludwig-Maximilians-Universität in München) auch mit dem Thema Medienethik befasst habe. Letztlich gilt für alle Medien, dass man Menschen damit manipulieren kann. Da VR noch so ein junges Medium ist, ist mein Eindruck, dass die Produzenten darauf sogar noch mehr achten als bei anderen Medien, dass die Frage, wie man verantwortungsvoll Beiträge erstellt, deutlich präsenter ist als bei der Produktion von Filmen, Texten oder Radiostücken.
Es gibt schon erste Hinweise, wie groß die Möglichkeiten von VR sind: Beispielsweise hat man Opfern von Verbrennungen mit Hilfe einer VR-Brille ins ewige Eis geschickt – und sie brauchten dann weniger Schmerzmittel. Dass VR eine Wirkung hat (wie andere Medien natürlich auch), steht für mich also außer Frage.
Unbedingt. Bei Konzerten oder Theaterstücken lassen sich mit VR ganz neue Erfahrungen schaffen. Siehst du da eine Zukunft und denkst du, dass das auch mit anderen Medien Anknüpfpunkte geben wird?
Ich glaube, dass man spannende Experiences in ganz unterschiedlichen Feldern und zu ganz unterschiedlichen Zwecken kreieren kann. Wir haben zum Beispiel vor kurzem mit einer Künstlerin zusammengearbeitet, die ihre Kunstperformance erweitern, etwas Dauerhaftes über die Performance hinaus schaffen und das Publikum in die Rolle des Künstlers versetzen wollte. In der Performance Sequence of a Horse in Motion wurde ein Künstler mit dem Kopf nach unten aufgehängt – wir haben diese Position mit einer 360°-Kamera gefilmt und später wurden die Besucher, die die Experience ausprobiert haben, selbst aufgehängt und haben das nacherlebt.
Generell entsteht in VR eine ganz eigene Kunstform. Im Bildungsbereich ist es auch sehr spannend, für Museen beispielsweise, aber auch für Forscher. Man hat z.B. Korallenriffe überall auf der Welt gescannt, um sie besser erforschen zu können. Jetzt können Wissenschaftler sich die Riffe detailgenau anschauen, ohne tauchen zu müssen. Die Ruinen von Palmyra wurden gescannt – kurz darauf hat der IS sie zerstört. Jetzt ist man froh, dass diese Bauten zumindest noch virtuell existieren. Im medizinischen Bereich versucht man mit VR Experiences, Kindern Angst vor Spritzen zu nehmen und, wie schon erwähnt, gibt es weitere Forschung zum Einsatz von Schmerzmitteln. Es gibt also viele verschiedene Möglichkeiten, VR einzusetzen.
Die gibt es mit Sicherheit. Was muss deiner Meinung nach als nächstes passieren, damit die VR ihr ganzes Potential entfalten kann?
Zum einen bin ich gespannt auf die weitere technische Entwicklung. Wie gesagt, im Moment stehen wir da noch am Anfang. Aber wichtiger als die Technik ist, dass wir spannende Stories haben, berührende Geschichten erzählen, dass wir die Menschen mit den Inhalten begeistern können. Technik ist am Ende Mittel zum Zweck.
Natürlich: Mit Virtual Reality und 360°-Videos kann man Menschen berühren, man kann leichter eine emotionale Verbindung zwischen ihnen und der Geschichte schaffen, als mit anderen Medien, weil sie in VR Teil der Geschichte sind. Aber dazu braucht es eben als erstes das: eine gute Geschichte, interessante Protagonisten, denen ich gern zuhören will.
Wir brauchen also gute Storyteller – und Menschen, die Spaß daran haben, mit einem noch jungen Medium zu experimentieren.
Wohl wahr. Vielen Dank für die spannende Einblicke in die virtuelle Realität!