„Social Media ist Kokain fürs Hirn“ – Sarah Weitnauer im Interview - LEAP/
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„Social Media ist Kokain fürs Hirn“ – Sarah Weitnauer im Interview

Sarah Weitnauer spricht im Interview über Psychologie im Online-Marketing, Reizüberflutung und Trigger.

by Oliver Engelbrecht
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Über Sarah Weitnauer

Sarah Weitnauer ist Psychologin und Online-Marketerin. Ihr Motto ist: „Wir rennen alle mit einem Steinzeithirn durch das digitale Zeitalter“. Und genau deswegen können wir unsere Marketing-Maßnahmen ganz wunderbar auf der Psychologie aufbauen.

Hi, Sarah und willkommen bei LEAP/! Wie bist du als studierte Psychologin darauf gekommen, dein Wissen ins Marketing zu transferieren? War das schon im Studium dein Plan?

Ich habe tatsächlich erst BWL und dann Psychologie studiert, um neue Ideen in das Marketing zu bringen. Ich bin dann zwar auf einigen Umwegen kurz in die klinische Schiene abgerutscht, weil ich dachte, das wäre vielleicht auch was, habe mich dann aber zurückbesonnen und bin wieder ins Marketing gegangen. Die Verknüpfung von Psychologie und Marketing habe ich schon 2004 verwendet und damit an der Universität Bayreuth den ersten Platz bei einem Business-Startup-Wettbewerb erreicht.

Und was war der Auslöser dafür, dass du gesagt hast: Schön, was ich jetzt hier im BWL-Studium gelernt habe – aber wenn ich Psychologie kann, dann kann ich das alles noch deutlich besser machen?

Im BWL-Studium hatte ich immer das Gefühl, dass es immer wieder nur heißt: Die Konsumenten, die Leute, die Bevölkerung agieren so und so. Alles bezog sich nur auf die breite Masse. Mir hat einfach das Individuum gefehlt. Das Individuum hat meiner Meinung nach in der Zeit, als ich in den Nullerjahren mit Marketing anfing, überhaupt nicht im Vordergrund gestanden – das hat mich gestört. Schließlich sind wir alle Menschen und nicht Datensätze. Wir haben es nicht mit Konsumenten, sondern mit Individuen zu tun, die aus bestimmten Gründen agieren.

Während meines Auslandsemesters auf Bali habe ich beschlossen, mir jetzt das Individuum genauer anzuschauen und habe quasi direkt im Anschluss mit dem Psychologie-Studium begonnen.

Und du sagst ja auch, dass sich das Hirn seit der Steinzeit praktisch nicht verändert hat. Aber es muss heutzutage, gerade online, mit so vielen neuen Reizen klarkommen … Oft scrollen wir uns durch unsere Feeds auf der Suche nach der einen Sache, die dann für drei Sekunden kurz unsere Aufmerksamkeit bekommen soll. Glaubst du, dass unser Hirn da überhaupt noch hinterherkommt? Oder müssen wir uns alle ein Stück zurücknehmen und fragen: Welche Einflüsse wollen wir maximal auf uns wirken lassen, um uns nicht komplett zu überladen?

Meine Meinung zum Thema „Aufmerksamkeit“ ist, dass die Leute heutzutage so vielen Inputs ausgesetzt sind, dass sie den einzelnen Reiz eigentlich gar nicht mehr richtig spüren können. Der nächste Reiz klopft ja immer schon an unsere Synapsen, wie zum Beispiel beim Infinite Scrolling. Es dreht sich ja nicht nur in der digitalen Welt alles schneller, sondern auch in Film und Fernsehen werden die Schnitte immer schneller. Auch die Songwriter passen ihre zukünftigen Hits an und platzieren den Refrain wesentlich früher. Stücke wie „One Night in Bangkok“ mit dem schier endlosen Vorspiel gibt es kaum noch. Dadurch wird die Aufmerksamkeitsspanne auf einem relativ hohen Level gehalten, weil immer wieder ein neuer Reiz kommt. Die Folge: Dopamin knallt ins Hirn, aber wir verarbeiten die Informationen nicht tief. Aus psychologischer Sicht ist es problematisch, Sachen permanent anzufeuern und dann immer auf diesem hohen Level zu halten. Wir brauchen auch Entspannungsphasen und nicht nur endlose spannende Reize. Genau diese Entspannungsphasen fehlen im Netz.

Social Media ist nichts anderes als Kokain fürs Hirn. Bei jedem Posting, das uns in irgendeiner Art und Weise neu vorkommt, haben wir eine starke Dopamin-Ausschüttung. Interessant dabei ist auch, dass zum Beispiel Wiederholungen, von denen man in diesem Zusammenhang glauben würde, dass sie langweilen, tatsächlich von Menschen positiv wahrgenommen werden. Die Wiederholung ist ein Momentum, in dem Menschen sich relativ wohlfühlen. Wir brauchen diese Phasen ohne neue Reize also, um zwischendurch runterzukommen zu können.

Ich merke das auch bei mir selbst. Wenn ich durch Twitter oder Reddit scrolle, bleibe ich bei vielen Sachen hängen, habe aber den Großteil davon eine Stunde später wieder vergessen. Woran liegt das und was kann ich dagegen machen? Baue ich gezielt Langeweile in mein Leben ein?

Wenn man die Sachen vergisst, dann hatten sie nicht genug Relevanz. Das heißt nicht, dass sie nicht spannend waren oder man gar kein Interesse an dem Thema hat, sondern dass man ihm in dem Moment nicht die große Relevanz beimisst. Es ist für unser Leben einfach nicht wichtig genug. Wozu sollten wir es uns dann merken? Unser Hirn ist schließlich stinkfaul! *lacht*

Diese Ruheoasen, die du als Langeweile bezeichnest, existieren aktuell in unserer vom Marketing durchdrungenen Lebenswelt quasi gar nicht mehr. Ist den Menschen langweilig, zücken sie ihr „Wischkastel“. Aber das pusht nur auf und lässt uns eben nicht abschalten.  Die Algorithmen von sozialen Netzwerken sind so aufgebaut, dass du immer wieder einen neuen Dopamin-Stoß kriegen musst – weil sie versuchen, dich innerhalb ihrer Apps zu halten. Denn nur innerhalb ihrer Apps bist du für sie relevant, kreierst Daten, konsumierst Werbung und bescherst ihnen Geld. Ob du nach dem Klick vergisst, warum du etwas gekauft hast, ist da relativ egal.

Das heißt: Eine kognitive Ruhephase auf Facebook, Twitter oder Instagram steht diametral zum Geschäftsmodell. Das Ziel dieser Apps ist immer: Bleib in unserer App und kauf! Und dazu nutzen sie allerlei psychologische Tricks: Konsumier, sei berechenbar, fütter unseren Algorithmus etc. Deswegen funktioniert das mit der Ruhephase dort nicht.

Wenn ich mich also auf Facebook oder Instagram entspannen möchte, dann ist dies kognitiv gesehen absoluter Blödsinn. Denn ich entspanne mich sicherlich nicht, wenn mein Hirn die ganze Zeit die Dopaminkorken knallen lässt.

Wenn wir uns wirklich mal entspannen wollen, müssen wir das Handy also in einen anderen Raum schmeißen …

Ja! Allein schon die Tatsache, dass das Handy im gleichen Raum liegt, bedeutet ja auch, dass das komplette soziale Netzwerk mit im Raum sitzt. Und in dem Moment ist es schwerer für das Individuum abzuschalten. Nebenbei bemerkt, erschwert die Anwesenheit von mobilen Endgeräten auch, eine empathische Basis für Gespräche zu finden.

Dazu gibt es diverse Studien: Mal ist das Handy am Tisch, mal etwas weiter weg im Regal, mal ausgeschaltet in der Handtasche und dann auch tatsächlich mal nicht im Raum. Und natürlich ist es am angenehmsten für alle Personen im Raum, wenn das Handy nicht mehr in Reichweite ist. Erst in dem Zustand können die empathischen Gespräche aufgebaut werden. Das zeigt, mal wieder, dass dieser „kleine mobile Altar“, wie Karl Kratz es nennt, auch zwischenmenschlich einen großen Impact hat.

Dieser kleine Bildschirm ist definitiv sehr wichtig für uns. Und als Marketer haben wir ja auch nur den Bildschirm, den optischen Tunnel – die Sprachsuche jetzt mal außen vor gelassen. Wie schaffen wir es, bei den Leuten auch die anderen Sinne zu triggern?

Das funktioniert sogar sehr gut. Der Mensch ist ein Augentier, das heißt, wir nehmen das meiste über unsere Augen war. Wir brauchen die anderen Sinne, aber das Visuelle wird von den meisten Leuten als der Hauptsinn eingeschätzt. Tatsächlich ist er es aber nicht. Vielmehr hat das Hören eine größere Relevanz – auch wenn das Sehen auf jeden Fall einen sehr hohen Stellenwert bei uns Menschen hat. Und über das Sehen können wir ganz, ganz viele Trigger setzen. Zum Beispiel dadurch, dass wir ein bestimmtes Bild einblenden, damit wiederum bestimmte, bereits vorher gesellschaftlich oder kulturell gelernte Assoziationen gezogen werden – diese Erinnerung wiederum schließt alle andere Sinne mit ein.

Wenn wir etwas sehen, kommen die wenigsten Nervenverbindungen, um das Gesehene zu verarbeiten, direkt aus den Augen. Forscher sagen, es sind nur 10 Prozent, die restlichen 90 Prozent kommen aus unserem Hirn, aus unseren eigenen Erfahrungen und Bewertungen.

Über diese Assoziationen kann auch das Kaufverhalten im späteren Verlauf komplett gesteuert werden. Das heißt, wir setzen bestimmte Primes ein, um das Kaufverhalten zu verändern. Das kann alles Mögliche sein: vom lächelnden Gesicht über einen kurzen Begleittext oder ein modifiziertes Bild bis hin zum Weinglas. Es kommt ganz darauf an, was man erreichen möchte.

Solche Trigger öffnen praktisch Schubladen in unseren Köpfen. So kann man die Gedanken in eine bestimmte Richtung lenken und eben auch das Kaufverhalten entsprechend beeinflussen. Beachten muss man aber, dass diese Trigger kulturell und gesellschaftlich erlernt sind. Was in Berlin funktioniert, funktioniert nicht zwangsläufig auch in Salzburg.

Wir sollten die Psychologie also am besten mit so viel Personalisierung wie möglich verbinden, um die Leute genau dahin zu führen, wo wir sie gerne hätten?

Das ist in Teilen richtig. Es gibt viele Sachen, die einfach deswegen funktionieren, weil wir evolutionspsychologisch die gleichen Wurzeln haben, in der gleichen Gesellschaft leben und mentale Kulturgüter teilen. Daher funktionieren viele Trigger sozusagen ganz automatisch, denn manche Sachen sind „einfach so drin im Menschen“, zumal sich das Hirn seit 40.000 Jahren nicht mehr grundlegend verändert hat.

Je feiner man die Trigger setzen möchte, desto stärker muss man die Psychologie mit der Personalisierung verbinden. Dadurch, dass die meisten Websites nach wie vor nicht so stark personalisiert ausgerichtet sind, wird hier Potenzial verschenkt. Wird jedoch psychologisch filigran gearbeitet, lassen sich hier mit den richtigen Kniffen erhebliche Conversion-Steigerungen erzielen. Im Luxusbereich lohnt sich eine starke Personalisierung daher besonders.

Mich interessiert noch, wie die Reaktionen waren, als du damit angefangen hast, die Psychologie mit dem Marketing zu verbinden? Gerade die BWLer glauben ja gerne, dass der Homo oeconomicus, also der angeblich immer wirtschaftlich rational entscheidende Mensch, schon kaufen wird. Wie hast du es da geschafft, die Leute von der Sinnhaftigkeit dieser Verbindung zu überzeugen?

Als ich vor vielen Jahren damit begonnen habe, diese beiden Themen zusammenzubringen, wurde ich schon etwas komisch angeschaut. Viele haben sich gefragt, was das denn überhaupt bringen soll … Mittlerweile sind die Leute allerdings um einiges offener. Ich merke, dass sich die Skepsis ziemlich schnell legt, wenn ich in Gesprächen oder Vorträgen ein paar Beispiele bringe. Ich kann in den Gesichtern dann richtig das Feuer sehen, das da an Ideen entflammt wird.

Allgemein sind die Menschen der Psychologie gegenüber heute viel aufgeschlossener. Das Stigma, dass man von PsychologInnen manipuliert wird oder ihnen seine Probleme offenlegen muss, hat sich gesellschaftlich aufgelöst. Auch weil Psychologie viel stärker in den Medien präsent ist und Psychologen in Filmen auch mal die „Guten“ sind – auch ein grandioses Marketingwerkzeug: Lernen am Model. Und dadurch, dass immer mehr darüber gesprochen wird, was die Psychologie in diversen Bereichen bewirken kann, ändert sich natürlich auch das Bild in den Köpfen der Menschen.

Fallen dir über die Psychologie hinaus noch andere Disziplinen ein, die bisher im Marketing wenig oder gar nicht genutzt werden, von denen unsere Branche aber profitieren könnte?

Ich denke, dass wir die Psychologie selbst noch gar nicht richtig abgegrast haben. Das sollte das Online-Marketing erstmal machen, denn da ist viel zu holen, bevor man getrieben nach dem nächsten neuen Schrei, dem nächsten Dopaminkick, in die nächste Richtung einem Eichhörnchen hinterherrennt.

Mit der Spielwiese Psychologie im Marketing habe ich definitiv erstmal genug zu tun. *lacht*

Zum Abschluss noch eine etwas persönlichere Frage. Du bist ja total verrückt nach Bergen. Was fasziniert dich an dieser Welt und wie hat dich dieses doch sehr spezielle Hobby geprägt?

Ein sehr spezielles Hobby ist es nur für jemanden, der nicht in den Bergen lebt. Ich sage immer: „Ich kann nicht aus dem Alpenraum wegziehen, weil ich mein Sportgerät nicht mitnehmen kann. Denn das ist etwa 2.000 Meter hoch und wiegt ziemlich viele Tonnen.“ Ich steige im Sommer und im Winter auf Berge, bei Schnee dann mit Skiern. Einfach weil ich es mag. Das ist anstrengend, aber es funktioniert, weil ich stur bin.

Ein Thema wie die Psychologie im Online-Marketing zu etablieren, hat auch was mit Sturheit zu tun. Und gleichzeitig weiß ich auch, dass man ein gewisses Durchhaltevermögen braucht, um eine Sache wirklich zu etablieren. Genau so lange, wie es dauert, bis man auf 4000 Metern Höhe angekommen ist. Oder noch weiter oben.

Zu diesem Durchhaltevermögen kann man dir nur gratulieren. Danke für deine spannenden Antworten!

This post was written by

Oliver Engelbrecht

Ich bin bei LEAP/ für Marketing & Communications zuständig und verantworte damit die Lead-Generierung und das Branding der Agentur. Zudem leite ich unser LEAP/ Magazin als Chefredakteur. Zuvor habe ich das SEO-Portal aufgebaut und geleitet.