Hallo, Philipp und willkommen bei LEAP/! Du hast ja einen sehr interessanten Werdegang hinter dir. Nun sind Instore-Systeme ein breites Feld. Was hast du dort genau gemacht und wie hat dich diese Arbeit für deine heutige Tätigkeit beeinflusst?
Den Impuls gegeben hat eigentlich die Tatsache, dass sowohl der stationäre Einzelhandel als auch der E-Commerce sehr spezifische Stärken haben. Insofern finde ich es naheliegend, diese im Rahmen von Cross-Channel-Ansätzen zu verbinden und ein durchgängiges Kundenerlebnis zu schaffen. Dafür braucht es Schnittstellen-Technologien zwischen der analogen und der digitalen Welt. Beispiele sind einerseits natürlich das Smartphone des Kunden, aber auch von Händlern bereitgestellte Systeme wie Tablets, Multitouch-Tables und Kiosk-Terminals sind durchaus vielversprechend.
Im Kern stand damals wie heute die Frage: Wie bringe ich Nutzer dazu, diese Technologien zu nutzen und damit Transaktionen zu tätigen? Diese Frage als zentraler Antrieb ist immer noch dieselbe. Es geht zwar weniger um harte Akzeptanzfragestellungen, aber nach wie vor darum zu verstehen, was genau das Kundenverhalten beeinflusst.
Und was sind die größten Unterschiede zwischen dem stationären Handel und dem E-Commerce, die du auf diesem Gebiet feststellen konntest?
Da gibt es einige grundlegende Unterschiede, die mich auch letztlich dazu gebracht haben, das Augenmerk stärker in Richtung Pure-Play-E-Commerce zu lenken: (1.) die Messbarkeit. Online-Unternehmen haben weitaus bessere Möglichkeiten, ihre Maßnahmen zu Akzeptanz- oder Nutzungssteigerung zu tracken und zu bewerten. Das verkürzt Optimierungszyklen extrem und erlaubt es, auf ein deutlich höheres Leistungsniveau zu kommen. (2) die Unmittelbarkeit. Jede Maßnahme, jeder Impuls, jeder Trigger kann sich im E-Commerce voll verhaltensrelevant niederschlagen. Nutzer sind nur einen Click vom Kauf entfernt, während die Wirkungskette im stationären Handel deutlich länger ist. (3) ein Punkt, den ich „Freiheit von sozialen Einflüssen“ nenne. Online-Shopping ist immer noch eine ziemlich einsame Sache. Das ist messtechnisch extrem spannend, weil damit die Wirkung von Maßnahmen nicht von Verkäufern oder einer Einkaufsbegleitung „verfälscht“ wird.
Insgesamt kann man vielleicht noch ergänzen, dass auch die DNA im E-Commerce deutlich stärker Themen wie Performance-Orientierung, Customer-Centricity und iteratives Varianten-Testing beinhaltet als im doch über weite Strecken weiterhin stark traditionell geprägten Einzelhandel.
Siehst du denn, dass immer mehr Einzelhändler sich auch in diese Richtung entwickeln? Also mehr auf Messbarkeit setzen und die Online-Kanäle wirklich annehmen?
Definitiv. Anders lässt sich der harte Verdrängungswettbewerb auch kaum bewerkstelligen. Das ist einerseits technologisch getrieben (z. B. mit innovativen kamera-basierten Audience-Measurement-Ansätzen oder Big-Data-Analysen von Kassendaten), andererseits haben Handelsmanager natürlich auch die Zeichen der Zeit erkannt und lernen jetzt von der lange unterschätzten E-Com-Konkurrenz – zumal es diese harte Trennung in Online und Offline faktisch sowieso nicht mehr gibt. Aber natürlich macht es einen Unterschied, ob ich mit einer Fremdsprache aufgewachsen bin oder sie im fortgeschrittenen Alter neu erlernen muss.
Keine Frage! Was sind denn deine besten Strategien, um hier bei deinen Kunden Ängste abzubauen? Und um sie dazu zu bringen, neue Dinge zu adaptieren?
Zunächst einmal hilft es, sich die Fehlerkultur und gängige Projektmanagement-Paradigmen in den Unternehmen anzusehen. Werden Mitarbeiter stigmatisiert, wenn ihre Ideen nicht zünden? Wie werden sie verzielt und nach welchen Kriterien befördert? Welchen Stellenwert hat eine exakte Planung? Ist es wichtiger, ein Projekt in time und budget abzuschließen, oder mit einer hohen Qualität? All das deutet an, wo im „Agilisierungsprozess“ sich die Unternehmen befinden.
Ich habe mehrfach in Unternehmen eine customer-centered Methoden-Toolbox eingeführt und entsprechende Abteilungen mit aufgebaut: Dabei sieht man immer wieder, dass welche Kraft so simple Prinzipien wie „build-measure-learn“ immer noch entfalten können, wenn der Grundgedanke verinnerlicht wird. Freiheiten zu bekommen und zu nutzen, auszuprobieren, aus Fehlern zu lernen – das sind sehr wirksame Veränderungen. Vor allem, wenn man von sich selbst gar nicht behauptet, die Antworten auf alle Fragen schon im Vorfeld zu kennen!
Das ist sicher ein wichtiger Ansatz. Wie kamst du, aus dieser Ecke kommend, nun darauf, ein (wirklich gutes) Buch zum Thema Psychologie und Conversion-Optimierung zu schreiben? Baut das vielleicht sogar auf deiner Promotion auf?
Vielen Dank! Meine Forschungszeit und die Doktorarbeit haben mir definitiv viel nötiges methodisches Rüstzeug und psychologische Theorien vermittelt. Die Promotion selbst bewegte sich an der Schnittstelle zwischen Marketing, Technologie und Psychologie, insofern war ich sicher nicht ganz unvorbelastet. Entscheidender war aber, dass ich in vielen UX- und Conversion-Projekten immer wieder gemerkt habe, dass man mit der klassischen Optimierungs-Toolbox ziemlich schnell an seine Grenzen stößt.
Deswegen habe ich – anfangs nur für mich privat – eine Sammlung mit psychologischen und neurowissenschaftlichen Prinzipien aufgebaut, die mir z. B. im Rahmen von Fachartikeln oder eigenen A/B-Tests über den Weg gelaufen sind. Diese Sammlung wurde immer größer, ich wurde immer öfter darauf von Kolleginnen und Kollegen angesprochen. Und als dann schließlich mit SpringerGabler ein großer Verlag anfragte, lagen alle Zutaten für ein fundiertes und sofort nutzbares Fachbuch auf dem Tisch.
Wo du es gerade schon ansprichst: Was hältst du als Conversion-Optimierer von Neuromarketing allgemein und dem Einsatz von MRT-Studien?
Ich muss gestehen, dass ich fMRT-Studien zwar sehr gerne lese, die Ableitungen und Interpretationen aber oft schwierig finde. Auch das hat primär methodische Gründe: Mit der funktionellen Magnetresonanztomografie wird erst einmal nur die Durchblutung in verschiedenen Hirnarealen gemessen.
Dabei ist die kleinste aktuell messbare Einheit 1 Voxel. Das deckt aber in der Regel mehrere Millionen Nervenzellen ab, sodass die Werte nur einem groben Areal zugeordnet werden können. Hinzu kommt, dass die Messungen oft auch zeitversetzt sind. Gleichzeitig kann eine fMRT-Studie natürlich kognitive Prozesse wirksam eingrenzen, sodass nachfolgende Studien einen genaueren Fokus haben können. Kurz gesagt: Für sich allein genommen, ambivalent. Im Verbund mit anderen Methoden, absolut sinnvoll (wenn man die Ressourcen hat).
Und trotzdem spielen, wie du sagst, psychologische Faktoren eine zentrale Rolle in der CRO. Du hast für dein Buch ja zahlreiche Heuristiken in die verschiedenen Phasen der Customer Journey eingeordnet. Auf welcher Grundlage hast du diese Einordnungen vorgenommen?
Genau – dass wir von unserer Intuition gesteuert werden, steht für mich vollkommen außer Frage.
Diese Heuristiken und kognitiven Verzerrungen, die du ansprichst, bilden die Grundlage unserer intuitiven Entscheidungen – man kann sie sich als Trampelpfade im Gehirn vorstellen, die man nimmt, ohne darüber nachzudenken. Damit sprechen wir über Mechanismen, die universell wirksam sind. Sie greifen bei jedem Menschen, in jeder Situation, bei jeder Entscheidung – auch, wenn die Wirkungsstärke natürlich nicht immer dieselbe ist.
Jetzt zu deiner Frage: Wenn diese Behavior Patterns – wie wir sie nennen – so universell sind, dann wirken sie auch entlang der gesamten Customer Journey. Ich kann sie nutzen, um einen Ad-Text in einer Google-Anzeige zu optimieren, Produkte auf Detailseiten attraktiv darzustellen, einen flowigen Antragsprozess ohne signifikante Abbruchpunkte zu gestalten, oder auch die Retourenquote in den Griff zu bekommen. Die Einordnung in die verschiedenen Phasen basiert grundsätzlich auf den empirischen Befunden zur Wirkungsstärke. In „PsyConversion“ wird ein Behavior Pattern demzufolge auch nie exklusiv einer Customer Journey-Phase zugeordnet, sondern immer mehreren.
Das macht wirklich Sinn. Was ist denn deine absolute Lieblingsheuristik? Zum Beispiel, weil sie kaum jemand kennt oder weil man sie so toll einsetzen kann?
Ich greife nochmal den letzten Punkt auf, dass Behavior Patterns so universell sind. Das heißt schließlich auch, dass man sie natürlich auch außerhalb des Digital-Bereichs phantastisch nutzen kann. Meinen Kindern habe ich mit „Evoking Freedom“ und dem „Decoy-Effect“ endlich erfolgreich Brokkoli schmackhaft gemacht – wenn das kein Beweis für die Wirksamkeit ist! Evoking Freedom macht übrigens nichts anderes, als zu betonen, dass der Gegenüber frei entscheiden kann, wie er sich verhält – obgleich das völlig klar ist. Damit kommt man einer Reaktanz-Reaktion zuvor und wird durch eine gewisse Unterwürfigkeit als sympathischer wahrgenommen.
Der Decoy-Effect ist zwar ein Alltime-Klassiker, allerdings auch einer der stärksten und stabilsten Effekte. Mit einem gut konzipierten Decoy – also einem gezielt unattraktiven Produkt im Vergleich zu zwei attraktiven Produkten – haben wir in Projekten auch komplexe Dinge wie Versicherungen oder Online-Depots schon sehr erfolgreich verkauft.
Spannend finde ich auch den „Cheerleader-Effect“: Unser Gehirn verarbeitet Bilder und Gesichter immer als Durchschnittswert, weil ein Durchschnittsgesicht evolutionär auf einen intakten Gen-Pool schließen lässt. Der Effect beschreibt die Situation, dass gemeinsam auftretende Gruppen von Menschen (wie z. B. Cheerleader) dementsprechend meist als attraktiver wahrgenommenen werden, als jeder einzelne für sich. Das kann man bei der Bilderauswahl wunderbar berücksichtigen! Die Bandbreite ist aber weitaus größer: Das Buch beschreibt die 101 wichtigsten Patterns für den E-Commerce. Mithilfe der Frameworks zur Auswahl der Patterns findet man so für jeden Kontext eine passende Konstellation von Triggern.
Daraus ergeben sich natürlich viele Möglichkeiten – aber auch einige Gefahren, z. B. die der Manipulation. Wie stehst du zu dieser Thematik und kennst du Wege, wie man sich vielleicht sogar vor einer Manipulation schützen kann?
Sehr guter Punkt! Große Macht bedeutet auch große Verantwortung, nicht nur bei StarWars. Insofern muss sich jeder Optimierer, jeder Marketeer, jeder Produktmanager ein ethisch-moralisches Korsett für den Einsatz von Behavior Patterns auferlegen. Eine rote Linie sollte dabei sein, dass Nutzer nie zu einer Aktion gebracht werden, die sie von sich aus nicht tun würden – z. B. ein Produkt zu kaufen, das ihre Ansprüche nicht erfüllt. Glücklicherweise ist das aber nicht nur ein ethischer Punkt, sondern auch ein wirtschaftlicher: Angesichts teilweise extrem hoher Akquisekosten müssen alle Digital-Unternehmen darauf achten, langfristig profitable Kundenbeziehungen aufzubauen. Das geht nur, wenn ich im Interessenkorridor des Kunden bleibe. Richard Thaler, einer meiner Gurus, bezeichnet den Einsatz von PsyConversion als „Nudge“ – also einen Schubs in die richtige Richtung. Mehr sollte es nicht sein, Manipulation von Nutzern lohnt sich nicht.
Das ist definitiv das Wort zum Sonntag. Wir wollen Entscheidungen erleichtern, aber niemanden manipulieren. Vielen Dank für die spannenden Einblicke, lieber Philipp!