„Große Markenideen überleben auch eine schwache Führung“ – Kim Christopher Birtel im Interview - LEAP/
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„Große Markenideen überleben auch eine schwache Führung“ – Kim Christopher Birtel im Interview

Kim Christopher Birtel spricht im Interview über Markenbildung, Markenführung und das Finden der passenden Brand Voice.

by Oliver Engelbrecht
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Über Kim Christopher Birtel

Kim Christopher Birtel ist seit über 15 Jahren als Markenberater, Mediator und Mentor in Veränderungsprozessen selbstständig. Zuvor hat er eine ziemlich schnelle Agentur-Karriere gemacht und war zum Schluss als Director of Strategic Planning bei einer BBDO-Tochter sehr unglücklich mit der Vorstellung und Handhabe von Marken. Irgendwie funktionierten die klassischen Positionierungsmodelle nicht mehr, und er begab sich daher auf die Suche nach den Ursprüngen des Marketings. Heute arbeitet er mit eigenen Methoden und berät Unternehmen in Fragen der Bestimmung/Identitätssuche und begleitet Veränderungsprozesse.

Hallo, Kim und willkommen bei LEAP/. Beginnen wir mit deiner Suche nach den Ursprüngen des Marketings. Wie ging diese vonstatten und wo hast du sie gefunden?

Die Suche reichte zurück in die Zeit der Aufklärung und der beginnenden Industrialisierung. Die ersten Fabriken hatten noch kein Personal zur Organisation. Diese künftigen Manager (Zirkusdirektoren) mussten in den damaligen Universitäten ausgebildet werden. Doch die Unis waren theoretisch blank. Daher postulierten sie (insbesondere Wirtschaftswissenschaftler), dass Wirtschaft eine Art Kriegsführung mit anderen Mitteln sei. Die Unis griffen also in den Fundus der Militärtheorie und Strategie. Zugleich begann der Siegeszug der Maschinen. Sie wurden zu einem neuen „Fetisch“ und der Beweis für die Vernunft des Menschen. Noch heute besticht Markenführung durch die militärische Haltung und nicht wenige Unternehmenschefs sehen sich als Kriegsherren. Diese Perspektive auf Menschen vernachlässigt jedoch unsere Kraft des Unbewussten und funktioniert nur noch leidlich im Umfeld einer Netzwerkökonomie.

Hast du ein paar Beispiele dafür, wie sich Markenführung und Marketing am Militär orientieren?

Sehr auffällig ist die Sprache. Marktanteile erobern und verteidigen, Briefings, Kampagnen, Zielgruppen, Division, Feld-Außendienst, Offiziere in der Chefetage … Noch heute predigt die BCG-Gruppe die Lehren von Clausewitz. Klassische Positionierungsmodelle interpretieren den Markt nach Volumenpotential und bilden diese auf wichtigen Insight-Achsen ab. Jetzt gilt es nur, den großen Teil vom Kuchen mit einer Stab-Linien-Organisation im Hintergrund zu erobern.

Das ist auf jeden Fall eine spannende Herkunft unserer Branche. Doch nachdem du nun wusstest, wo sie herkommt: Was hast du mit diesem Wissen angefangen?

Zunächst einmal habe ich mich für die Grundlagenthemen interessiert. Ein Jahr war ich Mitglied in einer Akademie für Neurowissenschaftliches Bildungsmanagement. Gerade die neuen Erkenntnisse der Neurowissenschaft führen die Grundlage der BWL ad absurdum. Wir sind eben kein rational handelndes Wesen und denken nicht nur an unsere persönliche Gewinnmaximierung. Danach forschte ich in der Tiefenpsychologie und wurde bei C.G. Jung und dem Archetypenmodell fündig. Diese Mentoren des Lebens helfen uns in der Bewältigung unserer Fortkommensaufgabe und werden durch jeden Menschen verkörpert. Sehr aufschlussreich war die Forschung in Sachen Traumasystem von Menschen. Nun konnte ich mehr über das Thema „Talent & Insights“ verstehen. Die Entdeckung der Arbeiten von Joseph Campbell (Mythenforscher) vervollständigte das Bild. Als Kulturwissenschaftler interessiert mich ebenfalls die Soziologie und Kulturanthropologie. Ergänzend hat mich meine Fortbildung als “Facilitator” noch auf das Themenfeld der prozessorientierten Gruppenmoderation geführt. Aus all diesen Erkenntnissen habe ich ein eigenes Modell entwickelt.

Mich hat vor allem das Archetypenmodell begeistert. Kannst du uns das bitte nochmal erklären?

Sehr gerne! C. G. Jung fand heraus, dass Menschen identische Träume haben. Sowohl die Narration als auch die Symbole waren übereinstimmend. Daraus leitete er ab, dass die Menschheit über ein kollektives Unbewusstes verfügt. Meint: Wir alle haben auch ein identisches „Programm“ in uns. Dieses „Programm“ hat ein einfaches Ziel: Überleben. Damit sind wir bereits seit ca. vier Millionen Jahren beschäftigt und haben natürlich bereits Lösungsstrategien entwickelt. Diese werden in Form von Geschichten in jede Generation weitergereicht. C. G. Jung nannte diese Lösungsstrategien „Archetypen“. Sie sind tief in unser Unbewusses integriert.

Kannst du uns Beispiele geben, wie du so etwas in Unternehmen anwenden kannst?

Klaro! Meiner Überzeugung nach wird jeder Mensch durch die frühkindlichen Erfahrungen in seiner Herkunftsfamilie bei einer der vier großen Überlebensfragen der Menschheit herausgefordert. Diese sind: Wer bin ich? Wie erfahre ich Schutz? Wie komme ich in Gemeinschaften? Und wie komme ich ins Neue? Das sind einerseits individuelle, aber zugleich auch zentrale Herausforderungen für uns alle. Unser Unbewusstes ist mit der Beantwortung seit Millionen Jahren beschäftigt. Indem wir uns an einem dieser Lebensthemen besonders abarbeiten, bringen wir damit auch eine archetypische Kompetenz in diese Welt. Wir sind alle auch „nur“ die Überträger einer zentralen Überlebensstrategie der Menschheit. Dieser bestimmende Archetyp wirkt in jeder Unternehmensgründung auch immer im Hintergrund mit und ist für alle Zukunft der Taktgeber. Er bestimmt die Überzeugungen, die Haltung, die Glaubensgrundsätze, die Werte und Kultur der zentralen Markenidee.

Ich moderiere daher in Workshops eine Reise zurück zu den GründerInnen des Unternehmens, um den dominanten Archetypen zu entdecken. Sobald dieser gefunden ist, kann man diesen Archetypen stimmig auf die Bühne bringen. Da jeder Mensch auf der Suche nach Antworten für sein Leben ist, wenden wir uns an den prägnantesten Archetypen bzw. die prägnantesten Marken im Markt. Diese Arbeit wirkt stark nach innen und nach außen.

Ich habe zum Beispiel u. a. mehrere Jahre Jägermeister und Hapag-Lloyd Cruises begleitet. Für das Premium-Kreuzfahrtunternehmen haben wir uns intensiv mit Albert Ballin beschäftigt. Er verkörperte ohne Frage einen schutzgebenden und sehr autoritären Archetyp. Seine Begeisterung galt, wie fast das ganze Bürgertum, dem Kaiser. Und so schuf er das gleiche Reiseerlebnis, wie die des letzten deutschen Kaisers. Noch heute haben diese Kreuzfahrterlebnisse etwas Staatsmännisches. Daraus entstand eine simple und zugleich komplexe Markenarchitektur – auf Basis einer klaren Vision und Mission. Eine kleines Beispiel dafür ist der neue Claim: „Vor uns die Welt“.

Das ist sicher ein sehr aufreibendes Erlebnis. Hast du auch mal erlebt, dass ein Gründer sich im Verlauf eines solchen Workshops ganz neu kennengelernt hat und so auch sein eigenes Handeln besser begriffen hat?

Ja, auf jeden Fall! In meinen Mentorings geht es zunächst immer um die Entdeckung des eigenen, dominanten Archetyps. Diese Erkenntnisse helfen zu verstehen, welche Talente man ausgeprägt, wie man die Welt sieht und welche inneren Knöpfe besonders sensibel reagieren. Sehr häufig kommt es zunächst zu einer Irritation, Zweifel und auch Ablehnung. Das gehört zu dem Prozess dazu. Am Ende entdeckt jeder seine Bestimmung selber, und es gibt keine Frage mehr. Diese Arbeit initiiert sehr häufig eine Beschäftigung mit der eigenen Lebensreise, klärt Beziehungsthemen und eröffnet neue Horizonte für die Zukunft. Für jeden Veränderungsprozess, den ich moderiere, gehört diese Arbeit zum Pflichtprogramm für das Top-Management. Ohne diese Erkenntnisse bin ich weniger gut in der Lage, Gruppenprozesse zu moderieren und Konfliktarbeit zu machen. Die Gefahr besteht, dass man zu leicht Teil eigene Themen in die Moderation einbringt.

Wie gehst du dann im Folgenden mit diesen Erkenntnissen um? Denn vom Wissen über das Unternehmen hin zur stimmigen Markenpositionierung ist es ja trotzdem noch ein weiter Weg.

Das stimmt! Hier gibt es keinen Standardprozess, sondern nur den individuellen Weg des Unternehmens. Meine Aufmerksamkeit gilt drei wesentlichen Elementen: Jede große Idee braucht ein Sinnangebot, eine sinnliche Ausdrucksform sowie die Möglichkeit zur Selbstgestaltung oder Partizipation. Der Sinn ergibt sich aus dem bestimmenden Archetyp,  und zumeist wird dieser in einem Manifest zum Ausdruck gebracht. Für viele ist das aber zu abstrakt. Daher braucht es eine sinnliche Interpretation – oder anders gesagt, ein emotionales Muster der Wiedererkennung (früher nannte man das Design). Zur Integration aller Prozessbeteiligter biete ich die Markenbestimmung als eine Art Gesellschaftsspiel an. Jetzt ist jeder eingeladen, seine Talente im Sinne der großen Idee weiterzuentwickeln und einzubringen.

Das hört sich nach einem echt spannenden Prozess an. Aber was passiert, wenn dieser einmal fertig ist? Gibt es Wege, um das über die Jahre weiter zu verfeinern und auch in einzelne Kampagnen zu gießen?

Oh ja! Diese Arbeit hört eigentlich nie auf. Der bestimmende Archetyp verrät viel über den Grund, warum die Welt ein Unternehmen oder einen Mensch braucht. Jedoch muss diese jeweilige Weisheit zeitgemäß kommuniziert werden. Wer heute nach Antworten auf Beziehungsanbahnung sucht, der wird weniger auf die Minnegesänge, Shakespeare oder Don Juan zurückgreifen. Tinder scheint da für viele gerade besser zu funktionieren. Eine archetypische Kommunikation schärft Kampagnen, und je nach Talent können daraus echt gute Arbeiten werden. Dabei denke ich zum Beispiel immer gerne an Nike, die auf diesem Wege Vorreiter sind in ihrer Branche.

Die sind natürlich ein hervorragendes Beispiel. Zum Abschluss wüsste ich gerne noch von dir, wie du Unternehmen davor bewahrst, ihre Marke zu zerstören. Denn oft reicht ja eine unbedachte Aktion, um das Image zumindest nachhaltig zu beschädigen.

Leider kann das keiner. Es gibt immer wieder unglückliche Entwicklungen in Unternehmen, die zu solchen Aussetzern führen. Irgendwie menschlich. Zumeist wird es schwierig für Mitarbeiter und Marken, wenn Führungskräfte den Wert der Demut gegenüber einer großen Idee nicht sehen können. Eine große Markenidee überlebt aber auch eine schwache Führung. Zudem finde ich Abweichungen oder Konflikte in der Führung sehr produktiv. Dazu eine letzte Geschichte: Ich wurde einmal zu Ferrero gerufen, als sie für die Milchschnitte den „Goldenen Windbeutel“ für die verlogenste Werbung von Food Watch verliehen bekamen. Die Menschen waren dort aufrichtig getroffen.

Ich erzählte ihnen dann die Geschichte von dem Gründer. Dieser suchte händeringend nach einer Lösung in den schlimmen Kriegszeiten in Norditalien, um den Kindern etwas Süßes anbieten zu können. Doch die Konditorei hatte nichts, denn es gab keinen Kakao mehr. So erfand er die Haselnusscreme als Ersatzsüßigkeit. Und das ist die Bestimmung von Ferrero, Süßigkeiten für große und kleine Kinder in schweren Zeiten, anstelle von pseudo-gesunden Milchschnitten. Das kam gut an, und dann habe ich den Bogen überspannt. Ich erklärte ihnen, dass sie dankbar für diesen Konflikt sein sollten, denn er kann ihnen helfen auf den Pfad der Bestimmung zurückzufinden. Das wiederum kam nicht so gut an. Aber ist es nicht so in der Nachbetrachtung? Jeder Konflikt in unserem Leben hilft uns auch dabei, unseren Weg wieder zu finden.

Das ist auf jeden Fall ein positiver Gedanke zum Abschluss. Vielen Dank für diese Einblicke in deine Arbeit!

This post was written by

Oliver Engelbrecht

Ich bin bei LEAP/ für Marketing & Communications zuständig und verantworte damit die Lead-Generierung und das Branding der Agentur. Zudem leite ich unser LEAP/ Magazin als Chefredakteur. Zuvor habe ich das SEO-Portal aufgebaut und geleitet.