„Die ‚German Angst‘ vor Magie kann sich kein Unternehmen leisten“ – Karl Kratz im Interview - LEAP/
, Oliver Engelbrecht

„Die ‚German Angst‘ vor Magie kann sich kein Unternehmen leisten“ – Karl Kratz im Interview

Karl Kratz spricht im Interview über Irrwege im Online-Marketing, zauberhafte Vorträge und seine Pläne für die Zukunft.

by Oliver Engelbrecht
Reading time: 11 minutes

Über Karl Kratz

Karl Kratz weiß, wie du Menschen digital berühren und verführen kannst: mit der richtigen Inszenierung und einem Schuss Magie. Diese beherrscht er als jahrelanger Keynote-Speaker perfekt – wird sich aber im kommenden Jahr neuen Aufgaben zuwenden.

Hallo, Karl und willkommen bei LEAP/! Dich braucht man in der deutschen Online-Marketing-Szene ja kaum vorzustellen. Aber mich würde trotzdem interessieren, wie es jemanden wie dich aus der Physik überhaupt ins Online-Marketing verschlagen hat …?

Die Geschichte begann um 1996 ganz unspektakulär: Ich gründete damals noch während meiner physikalisch-technischen Ausbildung mein Unternehmen „Karl Kratz elektronische Systeme“ und entwickelte Hard- und Software für den Sicherheitsbereich.

Da ich zu dem Zeitpunkt schon etliche Websites erstellt hatte, war es für mich das Normalste der Welt, dass ich für meine Sicherheitsprodukte ebenfalls eine Website brauchte. Gesagt, getan – und es geschah … nichts!

Es hat ein paar Wochen gedauert, bis ich begriffen hatte, dass meine Kunden (in erster Linie Behörden) allesamt noch keinen Internet-Zugang hatten. Und wenn, dann wurde dieser nicht dafür benutzt, um bei mir lustig einzukaufen …

Allerdings begannen sich immer mehr Gewerbetreibende dafür zu interessieren, was ich da in diesem „WWW“ mache, und so hörte ich diesen Satz immer öfter: „Mensch, Karle, bausch mir au so a Houmpaitsch?“ (schwäbisch für: „Hey, Karl, kannst Du mir bitte auch eine Website bauen?“)

Und so nahm alles seinen Lauf.

Und mittlerweile bist du einer der bekanntesten Vor- und Querdenker unserer Branche. Wann hast du gemerkt, dass sich ja nicht nur mit Websites Geld verdienen lässt, sondern auch mit dem Wissen und den Strategien, die du im Kopf hast?

Das ging schon recht früh miteinander einher: Weil ich keine Lust auf das übliche „Angebot-Ping-Pong“ hatte, gab es Angebote bei mir nur im Rahmen eines Workshops, in dem gemeinsam die eigentlichen Anforderungen festgelegt wurden. Für mich ein schönes Instrument zur Vorqualifikation, Wissensvermittlung, „mentalen Korrektur“ des „Ich brauch nur ne Visitenkarte im Web“ und zur präziseren Auftragsdefinition.

Aus den Workshops wurden dann Seminare, Keynotes, Vorträge und Vorlesungen – mittlerweile sind es im Schnitt 70 Events pro Jahr.

Und dort ratterst du ja nicht die bekannten Marketing-Weisheiten runter, sondern „zwingst“ deine Teilnehmenden dazu, weiterzudenken. Aktuell scheint eines deiner Lieblingsthemen die Diversifizierung von Traffic-Quellen zu sein. Ein tolles und sehr weites Feld. Wie bringst du Marketer dazu, über Google hinaus zu denken?

Zum Glück „zwinge“ ich niemanden zu etwas. Ich stelle bestenfalls Impulse aus Beobachtungen bzw. Erfahrungen heraus zur Verfügung. Und wer sich damit beschäftigen mag, der schaut sie sich an. Wem das nicht zusagt, schaut besser weg.

„Diversifizierung von Suchsystemen“ ist bei mir kein aktuelles Thema: Du findest derartige Ausführungen schon in E-Books und Artikeln um das Jahr 2010. Es ist sozusagen ein Evergreen, ein Dauerbrenner.

Unterm Strich ist es ganz einfach: Wer über ein einziges System mehr als 30 Prozent seiner Gewinne erzielt, fährt ein betriebswirtschaftliches Risiko im Sinne einer zu vermeidenden Abhängigkeit.

Als Gesellschafter würde ich einen Geschäftsführer in Regress nehmen, wenn das Unternehmen zum Beispiel zu 80 Prozent von Google abhängig ist und wegen einer Algorithmus-Änderung Verluste einfährt oder womöglich MitarbeiterInnen gekündigt werden müssten.

Aus meiner persönlichen Sicht ist eine Diversifizierung digitaler Kanäle für jedes Unternehmen unerlässlich – und das sollte für jeden auch ein absoluter „No-Brainer“ sein. Daumenregel: Sobald mehr als 30 Prozent der Einnahmen über einen Kanal (zum Beispiel Google) kommen, sollten Ressourcen und Budgets für den Ausbau anderer Kanäle zur Verfügung gestellt werden – alles andere wäre eine Mischung aus Gutgläubigkeit („Wird schon nichts passieren …“), Naivität, Zockerei und Verantwortungslosigkeit.

Das hört sich vielleicht alles recht harsch und frontal an. Auf der anderen Seite werde ich seit gut zwei Dekaden mit immer denselben Dramen konfrontiert, wenn ArbeitnehmerInnen ihre Jobs verlieren, weil das Management immer wieder dieselben Fehler macht.

Das ist alles verständlich – ich kann mir aber vorstellen, dass du mit solchen Aussagen nicht nur auf Gegenliebe stößt. Viele wissen wahrscheinlich auch schlicht nicht, wo sie nach solchen Traffic-Quellen suchen sollen. Mit welchen Tipps oder Fallstudien kannst du ihnen die Augen öffnen?

Ganz ehrlich? Mir ist die „Abwesenheit von Gegenliebe“ bei einem Thema, bei dem es um Arbeitsplätze, Existenzen und Familien geht, ziemlich egal. Im Gegenteil: Ich gehe hier gerne noch extremer rein – damit das Thema einfach in die Köpfe kommt.

Wir brauchen auch keine Tipps und Fallstudien. In erster Linie brauchen wir eine zügige Auflösung der freiwilligen Selbst-Indoktrination der Online-Marketing-Branche, welche darüber hinaus alle anderen Branchen regelrecht infiziert: der sich dauernd selbst vorgeführte Tanz ums googelnde Kalb.

Das geht schon damit los, dass sich alle Google-only-Konferenzen um genau ein einziges Suchsystem drehen: um Google. Hier wäre eine dringende Diversifizierung der Konferenz-Inhalte angesagt.

Wer Amazon, Ebay, Etsy, GULP, Jameda, BING, Ecosia, YouTube, Vimeo, Yelp, Lieferheld, Pinterest usw. bisher nicht als relevante Suchsysteme eingestuft hat, sollte sich langsam an den Gedanken gewöhnen, dass es mehr als nur ein Suchsystem gibt.

Wer die viel beschworene „Customer Journey“ vom Ereignis her denkt, wird automatisch die unterschiedlichsten Suchsysteme finden:

  1. Was ist passiert? (Relevantes Ereignis)
  2. Mit welchem Gerät agieren die Menschen? (Hardware/Software)
  3. Welche Gatekeeper dominieren auf der jeweiligen Hard- und Software?
  4. Welche kognitiven Fähigkeiten haben die Menschen?
  5. Über welche Terminologie verfügen die Menschen zum Zeitpunkt des Ereignisses?

All diese Punkte beeinflussen die Wahl des Suchsystems – und das ist immer seltener Google direkt.

Es gibt ja auch wahrlich genügend Beispiele von Firmen, die wegen eines Google-Updates in Schieflage geraten sind. Wie erklärst du dir, dass die Google-Versessenheit trotzdem regiert? Ist es einfach Bequemlichkeit?

Da trifft aus meiner persönlichen Sicht die dauerhafte Indoktrination der Google-SEO-Branche auf die ohnehin bei den SEO-Managern vorherrschenden Ausweichlogiken. Ich hatte mal einige davon für den SEOkomm-Vortrag „Alles Google oder was?“ erfragt und aufgelistet:

Unterm Strich gilt: So wie es kaum einen validen Grund gegen A/B-Testing gibt, so gibt es auch kaum einen vernünftigen Grund gegen eine risikomindernde Diversifizierung von Besucherkanälen.

Eines der ehrlichsten Statements kommt dabei wohl von Stefan David, langjähriger SEO-Manager bei JPC und wirklich ein alter, erfahrener Hase: „(…) der Wunsch, nach dem nächsten Google-Update den Laden zu schließen. (…) und Bequemlichkeit in Verbindung mit fehlendem Risikobewusstsein.“

So sieht es wohl aus. Ein anderes Thema, mit dem du die ausgetrampelten Wege verlässt, ist die Magie. Manchmal sind es Kartentricks in deinen Keynotes, manchmal sogar ein Magier auf der Bühne. Was versprichst du dir vom Einsatz solcher Mittel – und wie bist du überhaupt auf diese Idee gekommen?

Kurz auf den Punkt: damit sich Menschen an die wesentlichen Dinge einer Keynote, eines Vortrags oder eines Seminars noch Jahre später gut erinnern.

Jede Information, die keine Emotion in uns auslöst, wird vom Gehirn direkt wieder verworfen. „Erinnerbarkeit“ funktioniert auf der Basis der Einzigartigkeit sowie der empfundenen emotionalen Bandbreite.

Die Magie liefert gute Methoden und Werkzeuge, um die emotionale Bandbreite einer Sache bzw. eines Themas zu erhöhen: Menschen kommen ins Staunen, das Gehirn startet etliche intensive „Suchprozesse“ – im EEG (Elektroenzephalograf, ein Gerät, um Gehirnaktivität zu analysieren) ist die Synapsenparty sichtbar.

Gleichzeitig lehrt die Magie, mit mehreren parallelen Realitäten umzugehen. Im Online-Marketing haben wir die gesamte Zeit damit zu tun: Wir sehen „von hinten“ auf unsere Website – die Benutzer „von außen“. Ein Magier versetzt sich grundsätzlich in beide Realitäten, um für den Betrachter eine besondere Erfahrung zu erschaffen.

Wenn ich selbst von Magie spreche, meine ich damit keinen wilden Hokuspokus oder esoterisches Geschwurbel. Wenn ich von Magie spreche, meine ich die Erschaffung einer einzigartigen Architektur des Staunens. Das ist eine Handwerkskunst, die man lernen kann.

Und jeder, der auf seiner Website Aufmerksamkeit so lenken möchte, dass beim Betrachter eine neue Realität entsteht, sollte dieses Handwerk aufmerksam studieren. Oder um es noch deutlicher auszudrücken: Die „German Angst“ vor der Magie kann sich kein Unternehmen leisten.

Grundsätzlich würde sich die Online-Marketing-Branche einen großen Gefallen tun, neue Perspektiven und Themengebiete zu integrieren: die Magie, die Psychologie, die Hypnose, die Neurologie. Damit meine ich nicht, auf Konferenzen Bilder von aufgeschnittenen Gehirnen zu zeigen und die Amygdala zu suchen, sondern die Konzepte dieser Disziplinen zu verstehen, zu abstrahieren und auf die Praxis im Online-Marketing anzuwenden.

Definitiv, gerade in der Conversion-Optimierung kommt man mit psychologischem Wissen einen großen Schritt weiter. Aber wo ziehst du für dich persönlich die Grenze zwischen dem Generieren und Lenken von Aufmerksamkeit und einer Manipulation von Menschen, die du für dich ablehnen würdest?

Die Keynote „Die Kunst digitaler Verführung“ beginnt mit den Worten:

„Und Du fühlst es:

Alles ist Manipulation.

Jedes Bit, jedes Wort, jedes Bild, jeder Ton.

Und es ist gar nicht die Frage, ob Du manipulierst.

Es ist vielmehr die Frage, welche Qualität Deine Beeinflussung auf Deine Mitmenschen hat.

Wer manipuliert, bekommt manipulierte Kunden.

Wer beeinflusst, bekommt beeinflusste Kunden.

Wer sich durch seine Handlungen zu einem Vorbild entwickelt, kann eine Grundlage für Erfüllung und Loyalität erschaffen.“

Ich komme ja aus der Physik. „Manipulation“ bedeutet dort nichts anderes, als ein (definiertes) System zu verändern. Wir können gar nicht nicht manipulieren: Wenn wir ein Wort schreiben und jemand liest dieses Wort, verändern wir die Realität dieses Menschen.

Wir brauchen keine „künstlichen“ Grenzen für Manipulation: Alles, was sich im echten Offline-Leben nicht gehört, sollten wir in der Online-Welt genauso bleiben lassen.

Natürlich ist es digital möglich, „Aufmerksamkeitsfenster“ zu nutzen, um Suggestionen geschickt zu platzieren. Das kann man machen. Dann sollte man sich halt fragen: „Würde ich das im echten Offline-Leben genauso schamlos machen?“

Ich persönlich stelle mir mittlerweile eher die Frage: „Wem stelle ich spezielles Wissen zur Verfügung?“ – Anfragen von Unternehmen, die ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren kann und möchte, lehne ich ab.

Und ab dem kommenden Jahr wirst du sicher viele weitere Anfragen ablehnen – denn du hast angekündigt, dich ein Stück weit von deinen Tätigkeiten zurückzuziehen. Wie bist du zu diesem Entschluss gekommen?

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich höre mit meiner Tätigkeit als Sprecher, Konferenz-Veranstalter und Seminar-Anbieter im Online-Marketing auf.

Die Plattform karlsCORE wird es nach wie vor weiter geben – und durch die frei werdenden Ressourcen (immerhin ca. 180 Tage im Jahr) deutlich intensiver betrieben.

Nach gut 23 Jahren auf über 1.000 Events ist dann auch mal gut – man soll ja bekanntlich aufhören, wenn es am schönsten ist und am besten läuft.

„Online-Marketing“ ist ein spannendes Vehikel, um bestimmte Ziele zu erreichen. Ich möchte in Zukunft ein paar Dinge bewegen – und sollte aufhören, meine Zeit dafür zu verwenden, Vehikel zu erklären.

Meine Lehraufträge an diversen Unis und Fachhochschulen werde ich allerdings weiter erfüllen: (Aus-)Bildung ist wichtig und für mich auch eine Herzensangelegenheit.

Na, das ist ja wenigstens etwas! Und was sind darüber hinaus deine Pläne für das nächste Jahr?

Ein großer Schwerpunkt wird auf jeden Fall auf karlsCORE liegen. Und dann gibt es ja sehr viele spannende Themen.

Eine privat motivierte Intensivierung wird im Bereich „Wahrnehmung“ stattfinden. Hierzu starte ich nächstes Jahr ein schönes Projekt. Die ProbandInnen hierfür werde ich allerdings außerhalb der Online-Marketing-Branche akquirieren …

Darüber hinaus werde ich mich mit den Dingen beschäftigen, die die Menschheit in naher Zukunft verstärkt braucht: Energie, Wasser, Nahrung, Kommunikation.

Das wird sicher viel Zeit in Anspruch nehmen und deine Postings in letzter Zeit zeigen ja auch dein starkes Interesse an diesen Themen. Aber zum Abschluss nochmal Online-Marketing: Was denkst du, in welche Richtung sich die Branche deiner Meinung in absehbarer Zeit entwickeln wird?

Keine Ahnung. Ich habe keine Glaskugel. Wenn ich mir die Trends anschaue, dann gibt es da wenig, was einen besonders „kickt“:

Die meisten Agenturen verwalten gelangweilt digitale Assets und versuchen irgendeinen Mist so hin zu manipulieren, dass irgendwas bei Google rankt.

Viele Online-Marketing-Konferenzen überbieten sich geradezu in einem Einheitsbrei aus Einfallslosigkeit; bei den Tools kopiert ein Wettbewerber vom anderen und die Lehrpläne bücken sich tief vor Google.

Und wenn man dann denkt: „Oh, hier gibt’s was Neues – Neuromarketing!“, dann zeigen Männer in Anzügen auf Konferenzen Bilder von aufgeschnittenen Gehirnen und zeigen, wo der Hirnstamm ist. Aha.

Für mich fühlt es sich an wie eine Verwaltungsaufgabe mit Mikro-Innovationen, zum Beispiel wenn mal wieder jemand einen neuen Google-Rankingfaktor für toll befindet.

Das ist ja auch alles nicht schlimm – die wilden, spannenden Jahre sind vorbei. Man muss sich mit Online-Recht, Datenschutz, technischen Limitationen und so weiter herumschlagen.

Und niemand möchte ein Risiko eingehen, etwas gänzlich Neues auszuprobieren. Und wer es macht, bekommt einen interessanten Gegenwind aus den eigenen Reihen zu spüren.

Ich persönlich habe für mich gelernt, dass ein guter Zeitpunkt für eine Disruption dann ist, wenn es einem sehr gut geht – denn dann hat man genügend Ressourcen dafür.

Ich wünsche der Online-Marketing-Branche die Erkenntnis, dass jetzt gerade ein guter Moment für Disruption ist. Denn es geht allen gerade relativ gut.

Dann legen wir mal besser schnell los. Vielen Dank für deine inspirierenden Antworten und alles Gute bei dem Neuen, das da bald für dich kommt!

This post was written by

Oliver Engelbrecht

Ich bin bei LEAP/ für Marketing & Communications zuständig und verantworte damit die Lead-Generierung und das Branding der Agentur. Zudem leite ich unser LEAP/ Magazin als Chefredakteur. Zuvor habe ich das SEO-Portal aufgebaut und geleitet.